Nachtruf (German Edition)
erlesener Beaujolais.“ Er trank einen Schluck aus seinem Glas und tupfte sich die Lippen mit einer Stoffserviette ab. „Probiere ihn. Ich denke, er wird dir schmecken.“
Rain verspürte ein Hämmern im Kopf, das wahrscheinlich von dem starken Beruhigungsmittel herrührte, das er ihr vorhin gegeben hatte. „Warum? Was haben Sie ins Glas gemischt?“
Carteris lächelte. „Meine Liebe, wenn ich dir wieder ein Beruhigungsmittel geben wollte, würde ich es einfach tun. Ich hatte gehofft, wir könnten zusammen eine leichte Mahlzeit genießen. Ist das zu viel verlangt?“ Er beugte sich vor. Seine freundliche Miene verschwand, und die grünen Augen hinter der Brille wirkten mit einem Mal kalt. „Trink. Oder ich zwinge ihn dir die Kehle hinunter.“
Rain griff das Glas und setzte es an die Lippen. Sie schluckte. Langsam rann die Flüssigkeit in ihren leeren Magen. Schweißtropfen liefen ihr über den Rücken. Zwar hatte Carteris den Generator in Gang bringen können, doch die kleine Klimaanlage kam kaum gegen die Hitze an. Kerzenlicht flackerte in der stickigen Hütte und zeichnete tanzende Schatten an die mit Zypressenholz getäfelten Wände.
Zufrieden, dass sie zumindest den Wein gekostet hatte, goss Carteris sich selbst ein weiteres Glas ein. Neben dem Beaujolais stand ein Teller mit Käse, Gänseleberpastete und Crackern auf dem Tisch. Offensichtlich war die Kühlbox, die er mitgebracht hatte, gut gefüllt: In einem Becken aus schmelzendem Eis standeine kleine Schüssel mit einer schwarzen Masse, die aussah wie Kaviar. Carteris häufte etwas davon auf einen Cracker, schob ihn sich in den Mund und kaute genießerisch. Rain stellte fest, dass sie seit den Krapfen, die sie am Morgen mit Trevor gegessen hatte, nichts mehr zu sich genommen hatte. Aber die Vorstellung, jetzt etwas zu essen, erschien ihr vollkommen abwegig.
Plötzlich erleuchtete ein Blitz das Fenster. Der Sturm kam näher und würde bald direkt über ihnen sein.
„Das Abendkleid ist wie für dich gemacht.“
Sie zog den tiefen Ausschnitt des Kleides enger zusammen. Carteris hatte sie gerade erst aus ihrem Betäubungsschlaf geweckt. Er hatte das Kleid ihr zugeworfen und erlaubt, in das kleine Bad zu gehen, um es anzuziehen. Es war aus zarter, cremefarbener Seide, doch der feine Spitzenbesatz war mit den Jahren vergilbt.
„Ich habe es in Europa für deine Mutter gekauft und es extra für ihre zarte Figur maßschneidern lassen. Es ist von Chanel . Es war damals ziemlich teuer.“ Er schwenkte die burgunderfarbene Flüssigkeit in seinem Glas. „Ich war zu der Zeit in Oxford und habe Medizin studiert. Ich habe ihr das Kleid geschickt, aber sie hat mir das Paket ungeöffnet zurückgesandt.“
Er erhob sich von seinem Stuhl und ging zu dem altmodischen Plattenspieler, der auf einem kleinen Schrank an der Wand stand. Vorsichtig setzte er die Nadel auf die Vinylplatte. Rain erstarrte, als die rauchige Stimme ihrer Mutter den Raum erfüllte.
„Hast du das schon einmal gehört? Es ist eine Originalausgabe des Sanctity -Albums.“ Er betrachtete Desirees Bild auf der Plattenhülle.
Ein Zittern überkam Rain. Sie konnte nicht vergessen, was Carteris behauptet hatte. Er ist der Liebhaber meiner Mutter gewesen. Ihr Blick glitt unauffällig zu der gerahmten Fotografie auf dem Bücherregal. Das Bild musste manipuliert worden sein. Das war die einzig mögliche Erklärung. Sie klammerte sich an die Vorstellung, dass er nur ein verrückter Bewunderer war, dessen kranker Verstand eine Fantasiewelt um Desiree herumerschaffen hatte. Etwas anderes war undenkbar.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, kam Carteris mit dem Albumcover in der Hand auf sie zu. „Du glaubst mir immer noch nicht, oder? Ich habe deine Mutter kennengelernt, als ich im Abschlussjahr an der Loyola war, Rain. Sie sang in Bars im Quarter. Meistens für Trinkgeld. Sie arbeitete sogar ein- oder zweimal oben ohne. Meine Eltern dachten, sie hätte schlechten Einfluss auf mich. Nichts weiter als hübscher Abschaum, sagten sie. Sie schickten mich ins Ausland, um dort mein Medizinstudium zu beenden. Sie wussten, dass Desiree eine Frau war, die nur aufs Geld aus war, und wollten uns deshalb voneinander fernhalten.“ Im Schein der Kerzen blickte er Rain in die Augen. „Ich war, was man einen Spätzünder nennen könnte. Mit deiner Mutter erlebte ich meine ersten sexuellen Erfahrungen. Unsere Beziehung war sehr intensiv, und ich war unsterblich in sie verliebt. Geradezu besessen. Die Dinge, die sie
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