Nachtruf (German Edition)
Befehlen seines Vaters bedingungslos zu gehorchen. Trevor ging gedanklich einen Schritt weiter – vielleicht war der Junge darauf trainiert worden, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Selbst wenn er wegen seiner Mitwirkung an den Morden hin und her gerissen gewesen war und vielleicht Gewissensbisse empfunden hatte, war es sehr wahrscheinlich, dass Oliver Angst gehabt hatte, sich dem Vater zu widersetzen.
„Als Sie mit Carteris geredet haben, welchen Eindruck hatten Sie da von ihm?“
„Schien mir ein typischer Arzt zu sein“, erinnerte sich McGrath. „Viel beschäftigt, herablassend, auf dem hohen Ross sitzend. Er wirkte sehr verstimmt, weil wir seinen Tagesablauf durcheinandergebracht hatten …“
„Dieser Scheißkerl!“ Thibodeaux wollte die Schreibplatte des Sekretärs aufklappen. Aber die aufwendig geschnitzte Platte rührte sich nicht. „Das verdammte Ding ist abgeschlossen. Das heißt, dass sich darin etwas befindet, das wir uns ansehen sollten.“ Er zog einen Nagelknipser aus seiner Tasche und klappte die Metallfeile aus. Dann steckte er sie in das Schlüsselloch und fing an, darin herumzustochern. „Ich bin nicht in der Lower Nine aufgewachsen, ohne ein paar Dinge zu lernen.“ Er blickte auf, als Trevor zur Tür ging. „Wohin wollen Sie?“
„Das Zimmer des Sohnes finden.“
Thibodeaux schnaubte. „Sollte nicht weiter schwer sein. Vermutlich sieht es aus wie ein aufrecht stehender Sarg.“
Trevor lief den Flur entlang. Seine Gedanken sprangen ziellos hin und her. Er nahm an, dass Rain ihre Patienten ermunterte, Tagebuch zu führen. Die meisten Therapeuten taten das. Ob Oliver irgendetwas aufgeschrieben hatte, das ihm weiterhelfen konnte?
Er hatte gerade die Schlafzimmer erreicht, als ein junger Polizist um die Ecke bog.
„Agent Rivette? Sie müssen wieder mit nach unten kommen.
Wir haben etwas gefunden.“
Als Trevor den Gesichtsausdruck des Mannes bemerkte, zog sich sein Magen beinahe schmerzhaft zusammen. „Was denn?“
„Blut, Sir. Unter einem Tisch. Eine ganze Menge davon.“
Der Raum schien gerade renoviert zu werden. Plastikfolie und Abdeckplanen aus Segeltuch schützten die Möbel und den Boden. Bücherregale säumten die Wände, und Oberlichter ließen helles Tageslicht herein, das die bröckelnde Decke erhellte. Als Trevor hereinkam, verstummten die Gespräche der Polizisten im Zimmer.
„Hat irgendjemand hier etwas angefasst?“
„Sehen wir vielleicht wie Anfänger aus?“, fragte ein Kollege aus dem SWAT-Team.
„Dieser Bereich wird abgesperrt, bis die Spurensicherung da war.“ Trevor wartete, bis die Männer nacheinander den Raum verlassen hatten. Ein Übelkeit erregender, metallischer Geruch hing in der Luft. Trevor ging zu der Nische hinüber, wo unter einem gerahmten Ölgemälde ein Tisch stand, der ebenfalls mit einer Segeltuchplane bedeckt war. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst und hob langsam das Tuch an. Eine zweite Abdeckplane war darunter gestopft worden. Sie war blutgetränkt. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug.
War sie hier getötet worden? Nein. Trotz der Entführung und trotz der Blutflecke auf dem Tuch – er wollte diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren. Er schloss die Augen und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, das ihn zu überwältigen drohte. So blieb er stehen, bis er Schritte vor der offenen Tür hörte.
„Was ist los?“
Ein FBI-Agent stand in der Tür. „Die Cops haben eine Leiche gefunden. In einer Kühltruhe bei der Küche.“
Völlige Schwärze umfing Trevor. Mit steifen Schritten verließ er die Bibliothek, folgte dem museumsartigen Flur, bis er in einer riesigen Küche landete, die mit Edelstahlgeräten und einerTheke aus Marmor ausgestattet war. Trevor drängte sich zwischen den Männern hindurch, die sich dort versammelt hatten. Er musste sich zusammenreißen. Das war er der Ermittlung schuldig. Und Rain.
Ein lang gestreckter Hauswirtschaftsraum führte von der Küche in einen Arbeitsraum, den die Caterer benutzten, wenn eine große Anzahl Gäste bewirtet werden musste. Trevor blieb in der Tür stehen. Eine riesige Spüle schimmerte im Licht der kupfernen Lampen, und ein großer Wärmeofen nahm die halbe Backsteinmauer ein. Am hinteren Ende des Raumes stand eine rechteckige Kühltruhe mit geöffnetem Deckel. Kleine Wolken kühler Luft stiegen aus dem Inneren auf.
„Tiefkühlessen kenne ich ja, aber … oh Mann“, bemerkte ein
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