Nachtruf (German Edition)
auf einer Bank neben einem Magnolienbaum und stürzten sich auf ihre Sandwiches. Vor ihnen erstreckte sich unter dem strahlend blauen Himmel der Fluss wie ein See aus Karamell. Passanten schlenderten über die befestigten Wege durch den Park. Die meisten von ihnen waren – den Shoppingtaschen und Kameras nach zu urteilen – Touristen. Trevor beobachtete, wie ein Stück weiter entfernt ein paar kleine Kinder durch einen Springbrunnen wateten. Er warf einen Blick auf die Uhr. Um halb zwei sollte er in der FBI-Außendienststelle am Lake Pontchartrain sein.
„Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe, weil du das Mittagessen vergessen hast.“ Brian trank einen Schluck aus einer Flasche mit Root Beer, von der das Kondenswasser tropfte. „Ich weiß, dass du eine Menge um die Ohren hast.“
Trevor nickte bloß. Er wollte Brian nicht das Essen mit den grausigen Details seines Falles ruinieren. Stattdessen nahm er noch einen Bissen von seinem Sandwich.
„Eigentlich wollte ich mit dir reden“, sagte Brian.
„Über was denn?“
„Über Annabelle. Sie macht sich Sorgen um dich.“ Brian blinzelte in die Sonne. „Und ich, ehrlich gesagt, auch.“
Trevor sagte nichts. Er wandte seinen Blick wieder zu derGruppe Kinder. Eine junge Mutter beaufsichtigte sie vom Rand des Springbrunnens aus. Plötzlich kreischte sie auf, als eines der Kinder einen Schwall Wasser aufspritzte und die Vorderseite ihres Sommerkleides im Handumdrehen vollkommen durchnässt war.
„Annabelle hat mir erzählt, dass sie dich vor der Tür ihres alten Zimmers gefunden hat. Sie hat gesagt, du wärst durcheinander gewesen.“ Brian schwieg kurz. „Sie glaubt, du hättest so etwas wie einen Flashback gehabt.“
Trevor knüllte das Wachspapier mit den Überresten seines Sandwiches zusammen und warf es in einen Mülleimer neben der Bank.
„Hast du mal mit irgendjemandem geredet, Trevor? Darüber, was damals passiert ist?“
„Das alles ist sehr lange her. Lass die Vergangenheit ruhen.“ Für einen Moment verfielen sie in Schweigen. Dann sagte Brian: „Das Vergangene ist nie tot. Es ist nicht einmal vergangen.“
Trevor lachte leise. „Jetzt zitierst du also William Faulkner? Der weiß etwas über tragische Familiengeschichten aus den Südstaaten.“
„Trevor.“ Brians Stimme klang sanft.
„Lass es gut sein, Brian. Ich habe schon genug mit meinem Fall zu tun. Letzte Nacht hatte ich vielleicht drei Stunden Schlaf. Ich kann im Moment kein Gespräch wie dieses führen.“
Trevor sah hinaus in den Park. Sein Blick wanderte zu einer Reihe von Kreppmyrten. Ihre Äste und Zweige waren voller pinkfarbener Blüten. Hitze stieg von dem mit Steinen gepflasterten Weg auf, und er spürte, wie ihm unter seinem Hemd ein Schweißtropfen den Rücken hinunterlief.
Beim Brunnen weinte ein Kind. Trevor sah die Mutter hinter einem ihrer Schützlinge her durch das Wasser waten. In diesem Augenblick erst bemerkte er den Mann am Pavillon in der Nähe des Brunnens. Trotz der Hitze trug er einen langen schwarzen Trenchcoat. Sein Haar wirkte ungewaschen und strähnig, undaus seinem blassen Gesicht starrten zwei höhnisch blickende Augen. Der Mann hatte sie beim Mittagessen beobachtet, so viel war Trevor klar.
Er hörte kaum, was Brian neben ihm sagte. Schnell stand er auf und begann, sich durch die Masse von Touristen zu drängen. Aber der Mann bewegte sich ebenfalls und verschwand immer weiter aus Trevors Blickfeld, als er zwischen den Bäumen am Rand der Promenade hindurchschlüpfte und aufs French Quarter zusteuerte. Trevor fing an zu rennen, um den Mann nicht aus den Augen zu verlieren, und nahm kaum wahr, dass Brian nach ihm rief. Er kämpfte sich durch eine Reihe von Büschen und sprintete über die Straße am Ende des Parks. Ein Auto hupte, doch Trevor rannte weiter, den Blick auf die Gestalt im wehenden dunklen Mantel einen Block vor ihm gerichtet.
Der Mann lief um die Ecke und verschwand hinter einer zerfallenden Steinwand, die hinter den blühenden Ranken eines Primel-Jasmins fast nicht auszumachen war. Trevor folgte der Gestalt in einen geschlossenen Innenhof.
Er drehte sich einmal, zweimal um. Es gab keinen anderen Weg hinaus.
Wo, zum Teufel, war der Mann geblieben?
In dem Hof stand die heiße Luft förmlich. Trevors Haar war nass vor Schweiß, und der Schmerz in der Seite vom vergangenen Abend schien auf seinen ganzen Körper auszustrahlen. Über seinem Kopf bogen sich die Äste der Bananenbäume in der leichten Brise, die vom Fluss
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