Nachtruf (German Edition)
Seine Miene war düster und ernst. „Ich habe Marihuana gefunden und ein weißes Pulver, bei dem es sich, wie mirder Apotheker des Krankenhauses erklärte, um Methamphetamin handelt. Ich bin insbesondere wegen Letzterem besorgt.“
Er hatte guten Grund, besorgt zu sein. Rain rief sich Olivers Verhalten während seiner letzten Therapiesitzung ins Gedächtnis – das Crystal Meth könnte seine Paranoia und Feindseligkeit erklären.
„Haben Sie mit Oliver darüber geredet, was Sie gefunden haben?“
„Ich habe es heute Morgen versucht, aber er hat mich nur gegen die Wand geschubst und ist zur Tür hinausgestürmt. Er war wütend, weil ich seine Sachen durchsucht habe.“ Carteris zögerte kurz und sah ein wenig verlegen aus. „Ich hatte tatsächlich etwas Angst vor ihm. Vor meinem eigenen Sohn.“ Es entstand eine kurze Gesprächspause, als der Eistee kam, den Rain bestellt hatte. Sobald der Kellner sich zurückgezogen hatte, fuhr der Chirurg fort: „Ich mache mir Sorgen, weil ich glaube, dass Olivers Probleme meine Schuld sind. Ich habe versucht, wiedergutzumachen, dass er seine Mutter verloren hat, als er noch sehr klein war. Inzwischen wird mir klar, dass ich ihm zu viel habe durchgehen lassen. Ich habe einfach weggeschaut, als seine Verhaltensauffälligkeiten anfingen.“
Rain kannte Olivers Akte nur zu gut. Dr. Carteris war zwar Amerikaner, doch Olivers Mutter stammte aus Europa. Sie war in irgendeinem Land im pazifischen Raum, wo der Chirurg private Forschungen betrieben hatte, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Oliver war damals neun Jahre alt gewesen.
„Wie Sie wissen, bin ich vor zwei Jahren in die Staaten zurückgekehrt, um den Posten als Chef der Kardiologie anzunehmen. Meine Hoffnung war, dass Oliver seine Ausbildung hier beenden würde.“
Rain überkam Mitgefühl. Christian Carteris war eine Kapazität auf seinem Gebiet. Sie konnte sich vorstellen, welch hohe Erwartungen er an seinen Sohn stellte.
„Oliver ist sehr intelligent.“ Ein Anflug von Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Wussten Sie, dass er drei Sprachen fließend spricht? Er hat auch ein Talent für die Geige. Er hatte ein Musikstipendium an der Loyola University hier in New Orleans. Leider haben sie ihn rausgeschmissen.“
Rain nickte ernst. „Ja, ich weiß davon.“
„Jetzt arbeitet er in einer Videothek in Bywater und verdient kaum etwas. Aber offensichtlich reicht es, um seine Partydrogen zu bezahlen. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht enttäuscht bin.“
„Sie sind ein sehr erfolgreicher Mann, Dr. Carteris. Vielleicht empfindet Oliver einen übermäßigen Druck, in seinem Leben etwas erreichen, etwas zustande bringen zu müssen, und rebelliert dagegen?“
„Ich erwarte nur, wozu mein Sohn in der Lage ist – nicht mehr.“ Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Wie auch immer, ich wollte Sie nur das mit den Drogen wissen lassen und Ihnen von seinem veränderten Verhalten erzählen. Ich dachte, es könnte wichtig sein.“
„Ist es auch“, stimmte Rain zu. „Ich wünschte, ich könnte etwas sagen, um Ihnen die Angst zu nehmen. Wenn sich sein Drogenkonsum allerdings ausweitet – und das Crystal Meth deutet darauf hin –, dann könnte es nötig werden, über einen stationären Entzug nachzudenken. Es gibt da einige hervorragende Programme. Ich könnte Ihnen etwas empfehlen.“
„Oliver hasst mich jetzt schon“, antwortete er traurig. „Können Sie sich vorstellen, was los ist, wenn ich ihn in eine solche Einrichtung stecke? Doch ich werde selbstverständlich tun, was nötig ist.“
„Es ist eine schwierige Entscheidung. Aber irgendwann mal wird Oliver Ihnen dankbar sein, dass Sie sich genügend gesorgt haben, um das Beste für ihn zu tun.“
Der Chirurg blickte sie unverwandt an. „Ich möchte aufrichtig zu Ihnen sein, Dr. Sommers. Sie sind mir wärmstens empfohlen worden. Ich bin allerdings etwas entmutigt, weil Olivers Therapiesitzungen bisher zu keinem besseren Ergebnis geführt haben.“
„Eine Psychotherapie ist ein langer Prozess. Ich arbeite erst seit wenigen Monaten mit Oliver.“
„Sie haben recht“, räumte er ein. Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. „Und ich bemühe mich, geduldig zu sein.“ Er seufzte. „Ich liebe meinen Sohn. Deshalb habe ich versucht, über sein Verhalten hinwegzusehen, ja, es sogar zu verteidigen. Zumindest bis jetzt. Er entwickelt gerade eine Lebensweise, die ihn zerstören könnte.“
„Sprechen Sie mit ihm“,
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