Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Wegesrand ein Pfahl mit einem einstmals grünen Schild und der Aufschrift »Lunow 3,5 Kilometer« lag. Ein etwas fahrradfreundlicherer Weg führte nach links, der Weg zur Rechten nahm schon nach wenigen hundert Metern pfadähnliche Züge an. Da nicht erkennbar war, in welche Richtung das Schild ehemals zeigte, entschied sich Alexandra für links. Außerdem meinte sie, am Vorabend an dieser Kreuzung mit dem Lastwagen nach rechts abgebogen zu sein. Aber sicher war sie sich nicht, denn sie hatten weit mehr als eine Wegkreuzung passiert. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen jetzt das Dickicht der Bäume und verwandelten das kühle Licht des Morgens ganz langsam in ein warmes Gelb. Alexandra liebte diesen bläulich weißen Übergang eines nebelverhangenen Septembermorgens in die Klarheit des Tages. Oft war sie am frühen Morgen im Biegwald von Frankfurt spazieren gegangen, und nicht selten war es vorgekommen, dass sie dabei niemandem begegnet war. So konnte sie sich einbilden, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Andere empfanden diesen Gedanken vielleicht als furchteinflößend, ihr vermittelte er ein Gefühl von Freiheit und Einzigartigkeit.
Sie trat jetzt kräftig in die Pedale, legte einen kurzen Sprint ein und ließ so binnen weniger Minuten den Wald hinter sich. Am Horizont zeichneten sich bereits die Umrisse der Dorfkirche von Lunow ab, darüber stand der orangefarbene Ball der Sonne! »Perfekt«, dachte sie, »wenn das Wetter so bleibt, wird das mein erstes Motiv. Die Natur ist doch ein Meister der Perfektion und des Kitsches.«
Sie würde Lunow nun zwar weit vor jeder Ladenöffnungszeit erreichen, aber dieser Anblick war es wert, und außerdem gab es ihr die Möglichkeit, die Ortschaft unbeobachtet zu erkunden.
Gut einen Kilometer nach dem Ortseingangsschild hatte sie das Dorf beinahe durchquert. Lunow war winzig. Im Vorfeld hatte sie einiges über den Ort gelesen. Die Bevölkerungsdichte lag bei sechsunddreißig Einwohnern pro Quadratkilometer, die östliche Gemeindegrenze bildete mit der Oder die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik und der Republik Polen, und in den Neunzigern hatte man dieses Gebiet zum Nationalpark erklärt. Industrie gab es wohl nicht, vielmehr betrieb man Landwirtschaft, was Alexandra als geborene Großstädterin sehr angenehm fand. Sechsunddreißig Einwohner bewohnten hier einen Quadratkilometer! In Frankfurt am Main kamen auf dieselbe Fläche zweitausendsiebenhundert! Nina hatte recht, die perfekte Einöde!
Inzwischen war es sieben Uhr, aber der Ort wirkte noch immer wie ausgestorben. Keine fahrenden Autos, keine zur Arbeit eilenden Menschen, nicht einmal Leute, die mit ihrem Hund Gassi gingen, weit und breit keine Menschenseele. Alexandra lehnte ihr Fahrrad gegen einen Strommasten und ging ein paar Schritte zu Fuß. Irgendwo würde es doch wohl eine Bäckerei geben, die um diese Uhrzeit öffnete!
Auf den ersten Blick machte der Ort einen sehr gepflegten Eindruck, bepflanzte Vorgärten vor niedrigen Häusern, wunderbare alte Bäume mit Alleecharakter, hier und da ein altes Fachwerkhaus und im Hintergrund die Kirche von Lunow, ein frühgotischer Feldsteinbau. Fast bedauerte sie, nicht direkt in diesem Dorf zu wohnen.
Zu ihrer Freude entdeckte sie in einiger Entfernung eine metallene Brezel, die, an zwei Ketten aufgehängt, im Wind schaukelte. Ihr Magen meldete sich fast automatisch mit lauten Knurrgeräuschen. Schnellen Schrittes steuerte sie auf denLaden zu, drückte mit Schwung die Klinke herunter und wurde jäh gestoppt. Die Tür war verschlossen. Ungläubig sah sie auf das Schild mit den Öffnungszeiten. Montag bis Freitag von sieben bis achtzehn Uhr, samstags bis vierzehn.
»Der ist zu!«, hallte es von der anderen Straßenseite.
»Das sehe ich auch«, murmelte Alexandra, setzte ein freundliches Lächeln auf und drehte sich zu dem Rufenden um. Ein Mann mittleren Alters, mit von der Sonne gegerbtem Gesicht, grau meliertem Haar, Jeans und halboffenem Hemd, stand, die Hände in die Hüften gestemmt, mitten auf der Straße und betrachtete sie neugierig.
»Heute is Sonntag, da ist hier alles dicht!«, sagte er mit Berliner Dialekt und schlenderte dabei langsam auf sie zu. Sonntag! Natürlich, es ist Sonntag! Alexandra hatte das völlig vergessen. Der Mann stand jetzt vor ihr und hielt zum Gruß seine rechte Hand hin. Kaum hatte sie die Hand ergriffen, drückte er so fest zu, dass Alexandra beinahe laut aufgeschrien hätte. Aber da sie Frauen verabscheute, die unter
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