Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
einem festen Händedruck so taten, als hätte man ihnen soeben die Hand gebrochen, verzog sie nur ein wenig den Mund. Erschrocken ließ der Mann sie los und brummelte eine Entschuldigung. Dabei klopfte er ihr freundschaftlich mit solcher Kraft auf die Schulter, dass sie einen erneuten Aufschrei nur schwer unterdrücken konnte.
»Sie sind nicht von hier, oder?«
Alexandra, die noch immer mit dem Schmerz kämpfte, schüttelte den Kopf.
»Macht nix, ich auch nicht! Sind wir schon zwei.«
Bevor sie sich’s versah, hakte der Mann sich bei ihr unter und zog sie mit sich. »Kommen Sie, ich lad Sie auf ’nen Kaffe ein! Und ’ne Schrippe hab ich bestimmt auch noch irgendwo.«
Die Aussicht auf einen Kaffee und ihre Erfahrung mit dem Fuhrunternehmer Beyer führten dazu, dass sie keine Sekundedarüber nachdachte, dass dies ein ungewöhnliches Angebot war. Anscheinend funktionierte das hier so, jeder lud jeden ein, ganz egal, ob man sich kannte oder sich gerade zufällig auf der Straße begegnet war. Ein anderes Bundesland, andere Gepflogenheiten und anscheinend die vielfach beschriebene ostdeutsche Mentalität. Was soll’s, ihr gefiel es.
»Wissen Se«, hörte sie den Mann jetzt sagen, »als ich vor zwanzig Jahren hierherkam, war das ja hier Wüste. Osten eben, wenn Se verstehn. Na ja, aber die sind ja nich blöde hier, nur weil se Ossis sind. Die haben was draus gemacht. Nette Leute, durch die Bank, und arbeiten könn se!« Alexandra kommentierte seine Ausführungen mit beiläufigem Nicken, während sie versuchte, mit dem Mann Schritt zu halten. Es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, ob sie ihm zuhörte oder nicht, er redete einfach weiter. »Hier! Die Engel, sehn Se die?« Er zeigte über ihre Köpfe hinweg auf das Portal des Kirchengeländes, das drei weiße Statuen zierten.
»Gibt ’ne Legende dazu. So um 1860 rum wütete hier die Pest … nee, ich glaube, die Cholera war’s. Jedenfalls müssen mächtig viele verreckt sein, nur da, wo die Engel stehen, gab es einen Platz, der verschont wurde. Einer der Dorfbewohner, ich glaube ja, dass er besoffen war, soll im Mondschein drei Engel gesehen haben, die dem Tod den Eingang zu dem Platz verwehrten. Und aus Dankbarkeit haben die Bürger die Engel auf das Portal gestellt.«
Alexandra verrenkte sich fast den Hals, um im Vorbeigehen noch einen kurzen Blick auf die Statuen zu erhaschen.
»Trinken Sie überhaupt Kaffee?« Der Mann blieb plötzlich stehen und musterte sie misstrauisch. »Oder sind Sie so ’ne … Teetrinkerin!«, fügte er hinzu, als ob das etwas Verwerfliches wäre.
Alexandra verneinte schnell. »Meine Freunde sagen: Kaffeejunkie im fortgeschrittenen Stadium!«
Der Mann nickte zufrieden und lief geradewegs auf eine Gastwirtschaft zu. Alexandra bezweifelte, dass diese schon geöffnet hatte, und folgte ihm zögerlich. An der Tür angekommen, kramte er in seinen Hosentaschen, holte einen Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloss.
»Ich heiße übrigens Paul.«
»Alexandra«, beeilte sie sich zu sagen.
Keine fünf Minuten später saß sie am Tresen der gemütlichen Dorfkneipe und wartete darauf, dass die Kaffeemaschine ihre Entkalkungsmaßnahmen beendete und endlich bereit war, das lebenserweckende Elixier herzustellen, auf das Alexandra inzwischen ungeduldig lauerte.
»Sorry, ich vergess das andauernd, und immer dann, wenn’s schnell gehen soll, sagt dieser bekloppte Automat, dass er erst mal entkalkt werden will.«
Der Mann namens Paul stellte eine mittelgroße Platte mit belegten Brötchen vor Alexandra ab und grinste sie an.
»Na denn, haun Se mal rein!«
»Sie wollen mir jetzt nicht weismachen, dass Sie sonntags um sieben öffnen!«, sagte Alexandra, angelte sich ein Käsebrötchen vom Teller und biss hinein. »Kommt doch keiner! Außer einer zerstreuten Fahrradfahrerin!«, fügte sie kauend hinzu.
»Stimmt. Aber Sie werden lachen. Ist wahrlich nicht das erste Mal, dass ich so ’ne verpeilte Städterin vor ’nem geschlossenen Laden aufsammle.«
Alexandra dachte darüber nach, was sie an seinen Worten merkwürdig fand.
»Wieso reden Sie eigentlich nur von weiblichen Verirrten?«, fragte sie in scherzhaftem Ton und wusste plötzlich, was sie störte. Herr Beyer hatte fast dasselbe gesagt. »Nur junge Frauen«, waren seine Worte gewesen, allerdings hatte der alte Mann einen Grund dafür.
»Weil Männer um diese Uhrzeit noch schlafen«, antwortetePaul ebenso scherzhaft. »Nee, Spaß beiseite. Ich wüsste nicht, warum ich mir
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