Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
öffnete und sich auf einen Plausch mit ihm einließ, aber so würde er Harris begegnen. Daher wartete sie geduldig, bis der alte Mann im Haupthaus verschwunden war. Erst dann öffnete sie die Tür und entdeckte den buntgeblümten Stoffbeutel, der von außen an der Klinke baumelte. Obenauf lag ein kleiner Zettel. »Falls Sie morgen früh Hunger haben und wir noch nicht auf sind, hier etwas zum Frühstück. Liebe Grüße Frau Anders.« Darunter lagen ein Stück Butter, ein Glas Nutella und drei knusprig braune Brötchen.
»Ich glaube, nach allem, was ich gehört habe, dass so der Osten funktioniert hat. Zimmer ohne Frühstück, aber dann gab’s eben doch eins! Ganz privat selbstverständlich und an der Steuer vorbei!« Hocherfreut leerte sie den Beutel und bestrich eines der ofenfrischen Brötchen zentimeterdick mit Nougatcreme.
Sie widerstand der Versuchung, das Glas mit der heißgeliebten Schokoladencreme samt einem großen Löffel mit aufs Sofa zu nehmen, und setzte sich kauend auf die Bettkante.»Wenn es irgendwann keine Schokolade mehr gibt, springe ich von der Brücke!« Sie hielt Harris das Brötchen vor den Mund, aber als er hineinbeißen wollte, zog sie es blitzschnell weg. »Und ich bin geizig. Aber nur bei Schokolade!«
Harris griff nach ihrem Handgelenk und betrachtete nachdenklich die Narbe, die sich längs der Pulsader zog.
»Ist es das, was ich denke?«
»Ich hab’s versucht«, antwortete Alexandra fast beiläufig.
»Warum?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Du willst es mir nicht sagen!«
»Ich weiß nicht. Vielleicht versucht ein Teil meines Gehirns mich vor der Erinnerung zu schützen. Ich kann nicht sagen, was ich gedacht habe, als …«
»Lass es, ist nicht wichtig!«, sagte Harris und küsste zärtlich ihr Handgelenk. Seine Augen suchten in ihren die Zustimmung, während seine Lippen über die Armbeuge zu ihrem Hals wanderten und schließlich vor ihrem geöffneten Mund innehielten. Was dann geschah, war nicht mehr aufzuhalten. Wie von Sinnen fielen sie übereinander her, ausgehungert und ekstatisch. Hin und wieder hielten sie inne, sahen einander an und gaben sich dann erneut hin. Als Harris sich erschöpft auf den Rücken fallen ließ, bettete Alexandra ihren Kopf auf seiner Brust und lauschte seinem Herzschlag. Sie schwiegen, eine halbe Ewigkeit.
»Hunger?«, flüsterte Alexandra schließlich und schlängelte sich aus seinen Armen. Mit einem Lächeln, wie er es noch nie an ihr gesehen hatte, stand sie auf, kramte ein weiteres Brötchen aus der Tüte und bestrich es wieder zentimeterdick. In jeder Hand eine Hälfte, hüpfte sie aufs Sofa zurück und biss abwechselnd hinein.
»Wie lange machst du das schon?«, fragte Harris nach einem Blick auf ihren nackten, schlanken Körper und das inzwischen nur noch halbvolle Nutellaglas.
»Seit frühester Kindheit!«
»Alle Achtung! Ich glaube, dafür hasst dich mindestens die Hälfte der weiblichen Bevölkerung!«
Blitzschnell griff er sich eine der Brötchenhälften, bevor sie sich diese in ihren schon übervollen Mund stopfen konnte. Dem bösen Blick, der ihn daraufhin traf, hielt er schmunzelnd stand. Langsam und genussvoll leckte sie sich jeden Finger einzeln ab, setzte sich kerzengerade hin und wurde mit einem Mal ernst.
»Was ist der Unterschied zwischen einem Mörder und mir? Was habe ich nicht, was er hat? Oder umgekehrt! Was hat er nicht, was ich habe? Barmherzigkeit, Empathie? Wie gelangt man an den Punkt, an dem man einen Menschen kaltblütig umbringen kann?«
Harris ließ sich mit dem Gesicht auf die Bettdecke fallen. »Du kannst aber auch Sprünge machen!«, nuschelte er in die Decke. »Mann, Mann, Mann, Schneider is’n Waisenknabe gegen dich!«
»Das interessiert mich eben«, antwortete Alexandra.
»Also gut«, sagte Harris und richtete sich wieder auf. »Simpel betrachtet bedeutet es doch nichts anderes, als dass solche Menschen böse sind. Und wie man weiß, werden sie nicht böse geboren. Also … was macht sie böse?« Diese Art von Frage-und-Antwort-Spiel war ganz nach seinem Geschmack. Das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, von seinem Gegenüber ernst genommen zu werden. Das Gleichgewicht der Unterhaltung hob nicht nur sein Selbstbewusstsein, es gab ihm auch die Möglichkeit, anders als bei Schneider, die eigenen Überlegungen in Ruhe zu Ende führen zu können. Alexandra schien es ähnlich zu ergehen. Nachdenklich kaute sie an ihren Fingernägeln herum und ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
»Ein schlimmes
Weitere Kostenlose Bücher