Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Bormanns Wohnzimmer betrat, stand Schneider vor dem Leichnam und wippte nervös mit der rechten Fußspitze. Quer über seiner Stirn leuchtete ein Pflaster, sein linkes Auge war angeschwollen, und das morgendliche Zwielicht bewirkte eine Färbung, die Harris bei einem blauen Auge so noch nicht gesehen hatte.
»Stecken Sie Ihre Hände in die Hosentaschen, dann kommen Sie nicht auf die blöde Idee, was anzufassen!«
Wie erwartet lag Claudia Bormann mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden. Der helle Flockenteppich unter ihr war durchtränkt von Blut. Ansonsten stand alles an seinem Platz. Selbst die dünne Vase auf dem Tisch hatte den Kampf unbeschadet überstanden.
»Ich vertrage ja eine Menge, aber das hier vor dem Frühstück? Sehen Sie sich diese Sauerei an!«
Schneider warf dem Fotografen einen fragenden Blick zu. Erst als dieser nickte, zog er sich die Gummihandschuhe über, fasste dem Leichnam unter die Schulter und drehte ihn um. Das Ausmaß der Verletzungen war gewaltig.
»Er ist im Rausch. In der Fachsprache nennt man es Overkill … Übertöten. Das heißt, mehr Verletzungen als nötig, damit der Tod eintritt. Sie sollen hierhersehen, Zimmering!«
Harris hatte sich, als er Claudias verstümmeltes Gesicht sah, schockiert abgewandt. Schneider dagegen schien mit dem Anblick keine Probleme zu haben. Zum einen, weil er Claudia nicht persönlich gekannt hatte, zum anderen, weil er sicher daran gewöhnt war.
Der Mörder hatte unzählige Male das Messer kreuz undquer über den nackten Körper gezogen. Da die Innenseiten der Unterarme vollkommen unverletzt waren, musste dies post mortem geschehen sein, alles andere wäre unvorstellbar. Wie bei allen Opfern zuvor war der Tod durch Erdrosseln eingetreten. Schneider hockte sich neben den Leichnam.
»Ich tippe auf einen Cutter, glattrandige Wundwinkel, die Haut ist bis hinunter zum Fettgewebe durchtrennt.« Er beugte sich über Claudias Gesicht und zog eines ihrer Augenlider nach unten. »Diese Punkte hier, sehen Sie die? Eine Folge des Erdrosselns. Könnten zwar auch durch die Bauchlage entstanden sein, aber wenn man sich den Hals ansieht, ist es eher unwahrscheinlich. Die Strangulationsmarken sind intensiv und klar abgegrenzt. Das passiert nur bei sehr dünnen, bandartigen Werkzeugen. Draht zum Beispiel, wie bei allen anderen. Wenn es Sie tröstet und man davon absieht, wie hässlich der Erstickungstod ist, war der Tod des Opfers relativ schmerzfrei.« Schneider stand auf, streifte die Handschuhe ab und steckte sie in seine Jacketttasche.
»Wenn wir hier nichts finden, bin ich endgültig erledigt«, sagte er und deutete den Beamten der Spurensicherung an, dass sie ihre Arbeit nun fortsetzen konnten. »Kommen Sie mit, Zimmering. Hier geht’s weiter.« Schneider stellte sich neben die geöffnete Wohnungstür. »Die Tür war verschlossen. Kein Anzeichen von gewaltsamem Eindringen. Wie ist er reingekommen?«
Harris, der noch immer mit sich kämpfte, reagierte nicht.
»Ganz einfach. Das Opfer hat ihn reingelassen. Er tötete sie, schloss danach ab und nahm den Schlüssel mit. Er muss das Opfer ausgesucht haben, bevor es sich die Haare färbte. Oder der Mörder kannte sie, da nutzt auch Haare färben nichts. Hören Sie mir überhaupt zu, Zimmering?«
»Sie heißt Claudia«, sagte Harris.
»Ja und?«
»Dann sagen Sie nicht immer Opfer. Ihr Name ist Claudia Bormann.«
Schneider sah ihn einen Augenblick lang mit zusammengekniffenen Augen an. Normalerweise würde jetzt ein Statement über ermittlungstechnische oder polizeiliche Begriffe folgen, dieses Mal jedoch nicht. »Verstehe«, sagte Schneider ruhig und verließ die Wohnung.
Als Harris vor den Hauseingang trat, saß Schneider rauchend auf einem Blumenkübel und winkte ihn heran. »Was ist, wenn das hier nur beweisen soll, dass Robert Schumann unschuldig ist?«
Wieder so eine Frage aus dem Nichts, die sich aber unter den gegebenen Umständen geradezu aufzwang, denn Robert Schumann befand sich in Polizeigewahrsam. Plötzlich kam Leben in Harris.
»Ein Nachahmer, der will, dass wir Robert freilassen? Warum?«
»Die bessere Frage wäre: Wer?«
»Und wer sollte Interesse daran haben, dass ein Mörder freikommt?«
»Sein Bruder«, antwortete Schneider trocken. »Dirk Schumann versuchte von Anfang an, ihn zu schützen. Er gab Robert mehrere Alibis für die Tatzeiten und vor allem für die Mordnacht von Theresia. Womit er nicht rechnen konnte, war das Handyvideo. Also tötet er Claudia Bormann, damit es so
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