Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
wieder wird was frei.«
»Eine Wohnung?«
Harris nickte.
»Kommt nicht in Frage. Dann hätte ich auch in Frankfurt bleiben können. Nein, die Stadt erstickt mich.«
»Ist zwar nur ein Dorf, aber ich verstehe. Dann bleibt dir nichts anderes übrig, als deine Haltung zu ändern!«
Alexandra reagierte nicht, sondern stieß den Löffel in das Nutellaglas, zog ihn wieder heraus und betrachtete ihn mit über der Nase zusammengezogenen Brauen.
»Ich glaube, diesen Gesichtsausdruck habe ich schon mal gesehen. Warte, lass mich raten, wütend oder beleidigt?«, scherzte Harris, worauf sich Alexandras Miene noch mehr verfinsterte.
»Ich soll meine Haltung ändern, ja? So was Ähnliches haben meine Eltern auch immer gefaselt. Es ging ihnen nie darum, wer ich wirklich war, sie hatten eine Wunschvorstellung von mir, der ich nicht entsprechen konnte.
In allem … sollte ich meine Haltung ändern! Zur Schule, zu ihnen, zu meinem kleinen Bruder! Sie wollten mich so formen, dass ich zu ihnen passe, zu der gehobenen Mittelschicht der deutschen Finanzmetropole. Natürlich immer mit dem Satz, dass es zu meinem Besten sei, dabei wussten sie überhaupt nicht, was ich für das Beste hielt. Wie auch? Sie kannten mich ja gar nicht. Dann passierte das mit meinem Bruder. Und das Beste aus der Sicht meiner Eltern war, mich in die Klapsmühle zu stecken.«
In ihren Augen war kein Zorn, es war Trauer.
»Ich bin keine hoffnungslose Romantikerin, aber als ich dich das erste Mal sah … auf den Bahngleisen, da fühlte ich etwas, was ich noch nie gefühlt habe. Es war richtig, ich meine, es fühlte sich richtig an. Und nun sagst du, ich solle meine Haltung ändern.«
31.
Vor ihren geschlossenen Augen entstand Harris’ Bild, wie er bäuchlings mit ausgebreiteten Armen neben ihr eingeschlafen war. Lange hatte sie noch wach gelegen und sein Gesicht betrachtet. Hin und wieder hatten sich seine Pupillen unter den Lidern bewegt, so als träumte er, aber kurz darauf hatte er die Augen aufgeschlagen und sie angesehen. »Ich frage mich, ob er von Theresia träumt. Von ihr und den anderen Frauen«, hatte er geflüstert und dann ihr Gesicht stürmisch mit Küssen bedeckt.
Jetzt war es fünf Uhr morgens, der Regen prasselte laut auf das Bungalowdach und übertönte alle Geräusche. Erst als sein Handy durch die Vibration vom Tisch fiel, schreckte Harris auf und sah schlaftrunken auf seine Armbanduhr. Alexandra hielt die Augen weiter geschlossen und genoss das lang entbehrte Gefühl, nicht allein zu sein. Sie hörte, wie Harris nach dem Telefon tastete und sich kurz darauf mit gedämpfter Stimme meldete. »Zimmering.«
Schneider sprach sehr laut, so dass sie jedes seiner Worte klar und deutlich verstehen konnte. »Wir haben schon wieder eine! Das gleiche Muster, bis ins kleinste Detail. Kommen Sie her, Zimmering! Die Adresse kennen Sie sicherlich, es ist Claudia Bormann.«
Harris ließ das Handy fallen und sprang fluchend vom Sofa hoch. »Verdammte Scheiße! Verdammte Scheiße noch mal!« Sein Gesicht verlor plötzlich jegliche Farbe. »Um Gottes willen!«
»Was ist?«
»Letzte Nacht wurde Claudia Bormann umgebracht.«
Mit zitternden Händen hob Harris das Handy vom Boden auf, drückte eine Taste und hielt es sich ans Ohr. Sein Gesicht wurde noch bleicher.
»Sie hat mich angerufen«, stammelte er. »Sie hat mich verdammt noch mal angerufen, und ich bin nicht rangegangen!«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Alexandra.
Harris schüttelte irritiert den Kopf.
»Es ist, es ist dieser … Mehr war nicht drauf, danach hat es getutet.«
»Und was willst du jetzt machen?«
»Ich muss erst mal dahin.«
»Ich meine, mit dem Anruf.«
Harris suchte inzwischen, wild durch die Gegend laufend, das Zimmer ab. »Siehst du irgendwo meinen zweiten Strumpf?«
Alexandra hob die Bettdecke an und zog den Strumpf hervor. »Wenn Schneider von dem Anruf erfährt, feuert er dich doch endgültig. Der sagt doch glatt, du hättest sie retten können.«
»Gut möglich.«
»Dann sag’s ihm nicht.«
Harris sah sie entgeistert an. »Dann feuert er mich ganz sicher. Die sind doch längst ihre Anrufliste durchgegangen, und da steht, dass sie mich gegen zehn angerufen hat.«
Er blieb vor Alexandra stehen, küsste sie auf den Mund und lächelte dann gequält. »Ich habe mir unseren ersten Morgen anders vorgestellt. Ich ruf dich später an.«
Fast musste sie lächeln, als sie ihn aus dem Zimmer rennen sah. Diesen Satz hatte sie schon oft gehört.
32.
Als Harris Claudia
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