Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
holte eine schwarze Reisetasche hervor. Erst jetzt bemerkte Harris, dass nichts im Büro mehr an den Chef erinnerte. Schneider sagte nichts mehr, er blieb noch einen Moment in der geöffneten Tür stehen, dann zog er sie langsam hinter sich zu.
38.
Den gesamten Tag hatte Alexandra mit dem Absichern der Türen und Fenster verbracht, undichte Stellen gesucht, an denen jemand unbemerkt ins Haus eindringen konnte, und nicht einen Schritt ins Freie getan. Abgesehen davon, dass es ununterbrochen regnete, wäre es ihr ein Graus gewesen, ohne die schützenden Mauern zu sein.
Es beunruhigte und beruhigte sie gleichermaßen, dass Harris nicht mehr aufgetaucht war. Hatte sie ihm mit ihrer Mutmaßung unrecht getan oder plante er, wie er sich ihrer entledigen konnte, ohne dass der Verdacht auf ihn fiel? Dieser Gedanke ängstigte sie furchtbar. Ganz zum Schluss hatte sie die Axt, die ihr beim Durchstöbern eines ihr bisher nicht aufgefallenen Wandschrankes in die Hände gefallen war, von innen an die Haustür gelehnt. Auch wenn sich Alexandra niemals vorstellen konnte, mit einer derart martialischen Waffe auf einen Menschen loszugehen, beruhigte sie der Gedanke, dass sie für den Notfall griffbereit stand.
Mit der Nacht kam die Angst. Sie wollte sich nicht im vorderen Zimmer einschließen, weil sie dann nicht mehr hören konnte, was im Haus vor sich ging. Schließlich konnte jedes Geräusch der Beginn weiterer grauenvoller Stunden sein. Also ließ sie die Tür offen stehen und den Flur erleuchtet. Trotz ihrer furchtbar beängstigenden Gedanken schlief sie letztendlich gegen Mitternacht ein.
Eine Berührung an der Wange holte sie aus dem Schlaf. Kaum spürbar, ein Hauch, ein sanftes Streicheln, vielleicht hatte sie auch nur geträumt.
Als sie die Augen öffnete, stand ihr Herz jedoch sekundenlang still.
Direkt vor ihr, im schummrigen Licht, saß eine Gestalt, so nah, dass sie sie berühren konnte. Erst auf den zweiten Blick erkannte Alexandra, wer da vor ihr saß. Wie in jener Nacht trug er das weite Kleid, seinen Kopf schmückte eine schwarze Perücke. Die Knie nah an das Kinn gezogen, hockte er auf einem Stuhl und sah sie an. »Wir müssen fort von hier!«, sagte er leise und lächelte. »Jetzt! Sonst ertrinken wir.«
Alexandra schloss die Augen. Nein, sie träumte, ganz sicher träumte sie nur. Wieder spürte sie die Berührung an der Wange. Ihre Hand schnellte zu ihrem Gesicht, wischte mit einer heftigen Bewegung darüber, aber da war nichts. Gut, sehr gut, du träumst nur!
»Wir müssen nach oben!«, hörte sie wieder die Stimme, sie klang nicht mehr freundlich, sondern eindringlich, fordernd, befehlend. Erschrocken riss Alexandra die Augen auf. Der Mann stand jetzt auf dem Stuhl und streckte die Hand nach ihr aus. Er lächelte nicht mehr, er durchdrang sie mit den Augen. Augen, die so schwarz waren wie die Nacht da draußen. »Komm, ich helfe dir! Dann wirst du nicht nass.« Sie schüttelte heftig den Kopf und kroch, weg von der dürren Hand, auf die andere Seite des Bettes. Erst jetzt sah sie, dass die Möbel so angeordnet waren, dass man über sie, ohne den Boden zu berühren, bis zur Treppe gelangen konnte. Aber warum? Warum sollte sie den Boden nicht betreten? Vorsichtig wagte sie einen Blick über die vordere Bettkante. Wer auch immer dieser Mann war und woher er kam, er hatte recht. Der Fußboden war nicht nass, es gab ihn nicht mehr. Das ganze Zimmer stand unter Wasser. Sie schätzte zwanzig Zentimeter, aber diese Zentimeter flößten nicht nur ihr Angst ein, auch der Mann tat gerade so, als wäre die Berührung damit tödlich. Immer wieder sah er mit angstgeweiteten Augen auf das Wasser, tippelte einen Augenblick auf der Stelleund wagte erst danach den nächsten Sprung. Diese Angst musste sie nutzen, wenn sie ihm entkommen wollte. Alexandra rappelte sich hoch, trat an die Vorderkante des Bettes und tat den ersten Schritt auf den Stuhl. »So ist es gut«, flüsterte der Mann. »Lass ihn vorgehen«, dachte Alexandra, »er wird so schnell wie möglich die Treppe erreichen wollen, und wenn der Abstand groß genug ist, spring runter und hole die Axt.« Der Blick in den Flur machte ihre Hoffnung zunichte. Die Axt war verschwunden, und unter der Haustür hindurch strömte das Wasser. Fieberhaft suchte Alexandra nach einem Ausweg. Es gab ihn!
Mit bloßem Auge fiel einem die Steigung, die der Flur in Richtung Küche nahm, nicht auf, aber das Wasser endete an einer geraden Linie auf halber Strecke. Bis dahin musste
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