Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
dass sich nicht nur die Umgebung, sondern auch ihr Orientierungssinn in nichts auflöste.
Zum ersten Mal verfluchte Alexandra ihr Nichtraucherdasein, anderenfalls hätte sie jetzt sicher ein Feuerzeug bei sich und könnte die Kerze, die noch immer auf dem kleinen Tisch vor der Kammer stand, entzünden.
»Du hast es geschafft. Das ist gut.« Die Stimme kam aus dem Nichts. Nur der Windhauch und das leise Quietschen des Fensterrahmens widerlegten, dass sie halluzinierte. Das also war sein Trick, unbemerkt ein und aus zu gehen. Was störte ihn ein dickes Vorhängeschloss, wenn er doch von außen über eine Leiter kam? Auch wenn es ihre Sinne schärfte, es machte sie rasend, dass sie nichts sah. Sie spürte, wie er sie anstarrte, aber wo war er? Stand er direkt neben ihr? Ein leises Rascheln, dann das Fauchen eines entzündeten Streichholzkopfes.
Sein Gesicht, im Schein des brennenden Streichholzes, ließ Alexandra laut aufschreien. Es war das eines Kindes, und auch wenn die Proportionen groß und ausgeprägt waren, die kindlichen Züge waren geblieben. Und genau das ließ es hässlich und monströs erscheinen.
Lächelnd zündete er die Kerze auf dem Tischchen an. Die Art, wie er das Streichholz ausblies, erinnerte Alexandra plötzlich an ihren kleinen Bruder. Ängstlich und übermäßig lange pustete und schüttelte er das Hölzchen. Dann ließ er sich auf den Fußboden sinken, nahm wieder die hockende Haltung an, umschlang mit seinen langen Armen die Knie und stützte das Kinn darauf ab. Sein Blick blieb starr an ihr hängen.
Knapp eine Stunde saßen sie sich so gegenüber. In Alexandras Kopf rasten derweil die Gedanken. Momentan schien ihre Lage zwar aussichtslos, aber ungeachtet ihres Streites würde Harris irgendwann jemanden schicken, der nach ihrsah. So lange musste sie durchhalten. Zu flüchten hatte keinen Sinn, zum einen, weil sie nicht wusste, wohin, zum anderen, weil ihr der Mann immer einen Schritt voraus sein würde. Sicher hauste er schon länger hier und kannte jeden Schlupfwinkel des Gebäudes. Anders war es auch nicht zu erklären, dass er so lange unentdeckt geblieben war. Wenn es ihr gelingen würde, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, würde sie Zeit gewinnen. Jemand, der redete, handelte für gewöhnlich nicht. Jedenfalls traf das auf Selbstmörder zu, die, bereit zum Sprung, auf dem Dach eines Hochhauses standen. Reden lenkte sie für eine gewisse Zeit von ihrem eigentlichen Vorhaben ab.
Ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen, aber die Angst betäubte den Schmerz. Sie bemühte sich, normal zu klingen.
»Wer bist du?«, fragte sie und sah schnell zur Seite, als er den Kopf hob. Sein Gesicht jagte ihr noch immer panische Angst ein.
»Mein Name ist Adam.«
»Und weiter?«
»Nur Adam.«
»Gut«, dachte Alexandra, »mach einfach so weiter.«
»Woher kommst du?«
»Von einem Ort, den du sehr gut kennst.«
Einen Augenblick verwirrte sie der Gedanke, der sich in ihren Kopf drängte, doch kurz darauf hatte sie sich wieder im Griff. Er konnte weder Frankfurt meinen noch … Alexandra erschauderte. Hatte einer der Insassen der Psychiatrie Adam geheißen? Wieso kam ihr sein Name so bekannt vor?
»Was für einen Ort meinst du?«
Adam lächelte. »Du weißt es.«
Alexandra schüttelte den Kopf.
»Dann lass uns weiterspielen! Du fragst, und ich antworte«, sagte er und nickte ihr aufmunternd zu.
»Was machst du hier?«
»Auch das weißt du.«
Alexandra spürte Unmut in sich aufkommen. Vielleicht musste sie einfach nur den Ton verschärfen, und er würde klein beigeben.
»Die Regel ist: Ich frage, und du antwortest«, sagte sie streng. »Also, was machst du hier?«
»Die Antwort ist, dass du es weißt.«
Auch wenn sie ihn für nicht sonderlich intelligent hielt, schien Härte ihn nicht zu beeindrucken. Seine Antworten klangen vielmehr so, als wäre er sich seiner Überlegenheit bewusst und durchaus Herr der Situation. Es war eindeutig, dass er mit ihr spielte. Sie musste geschickter vorgehen und die Fragen anders stellen.
»Vor wem versteckst du dich?«
»Vor der ganzen Welt.«
»Und warum?«
»Das weißt du doch.«
Alexandra, der nichtssagenden Antworten mittlerweile überdrüssig, überwand ihre Abscheu und wagte den direkten Augenkontakt. Wie erhofft, zog Adam den Kopf zwischen die Schultern. »Weil ich irre bin«, flüsterte er und kicherte demonstrativ. »Und alle suchen mich!«
Just in diesem Moment fiel Alexandra ein, wann sie den Namen Adam das erste Mal gehört hatte.
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