Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
sie es schaffen!
Der Mann stand inzwischen auf der vierten Treppenstufe und streckte ihr wieder seine Hand entgegen. »Keine Angst, da oben sind wir sicher!«
»Jetzt«, dachte Alexandra und sprang, so weit sie konnte. Sie landete im letzten Meter Wasser und rettete sich schließlich in die Küche.
»Nein, tu das nicht!«, hörte sie ihn schreien, als sie die Küchentür mit lautem Krachen hinter sich zuschlug. Dann war es still. Totenstill. Alexandra presste ihr Ohr gegen die Tür und zwang sich, normal zu atmen. Es gelang ihr nicht, die sich ankündigende Panikattacke zwang sie in die Knie. Es war unmöglich, mit zitternden Händen in die enge Tasche ihrer Jeans zu greifen und das Röhrchen mit den rettenden Tabletten hervorzuholen, also hielt sie sich an der Türklinke fest und zog sich daran wieder nach oben. Aber außer einem zerknüllten Zellstofftaschentuch war die Tasche leer, sie war der Attacke wehrlos ausgesetzt. Und nicht nur ihr! Mit Entsetzen sah Alexandra auf das kleine Rinnsal, das unter der Tür hindurch in die Küche floss.
39.
Im Minutentakt bewegten sich die Lastkraftwagen des Deutschen Roten Kreuzes im grellen Flutlicht aus der Evakuierungszone. Das Dorf war noch nicht betroffen, würde aber innerhalb der Nacht von einer zweiten Welle erreicht werden. Ununterbochen brachten jetzt Hubschrauber Tausende Sandsäcke, die im Notfall an den Bruchstellen aufgeschichtet werden konnten, falls die aufgeweichten Deiche dem enormen Wasserdruck nicht mehr standhielten. Schon am Abend hatte man damit begonnen, die unteren Polderflächen zu fluten, was den Wasserstand zwar kurzzeitig absenkte, aber durch die ausgedehnten Starkniederschläge in den tschechischen und polnischen Gebirgsregionen drohte eine neue, noch höhere Flutwelle. Trotz der Neubaumaßnahmen, die unmittelbar nach der letzten Flut begonnen und fast sieben Jahre gedauert hatten, bezweifelten die Verantwortlichen aufgrund der Wucht der ankommenden Wassermassen, dass die Deicherhöhung ausreichen würde.
Harris war, wie von Schneider angekündigt, noch am selben Tag zur Deichsicherung abgezogen worden. Schneider selbst hatte den kürzesten Weg nach Hause genommen und redete, sollte er Harris’ Rat befolgt haben, gerade mit seiner Frau. Im Stillen war Harris jedoch davon überzeugt, dass, wenn die Ehekrise auch nur leidlich, aber doch abgewendet war, sich Schneider wieder auf den Fall stürzen würde. Ungeachtet dessen, ob man Dirk oder Robert Schumann inzwischen den Prozess machte, würde Schneider weitersuchen, solange deren Schuld nicht zweifelsfrei erwiesen war.
Nun, da das Dorf evakuiert wurde, überwachte Harris denreibungslosen Ablauf, redete auf Leute ein, die sich immer noch sträubten, und half alten Menschen beim Tragen der unverzichtbaren Dinge, was manchmal die Ausmaße eines Umzuges annahm. Währenddessen weilten seine Gedanken bei Alexandra. Man hatte ihm mitgeteilt, dass ein Fahrzeug zu ihrem Haus unterwegs und dafür gesorgt sei, dass sie wohlbehalten das Überschwemmungsgebiet verlassen konnte. Was er nicht wusste, war, dass der Weg dorthin schon seit Stunden nicht mehr befahrbar war. Das gesamte Waldgebiet konnte man mittlerweile nur noch mit dem Boot erreichen.
40.
Die Treppe war zu alt, als dass man sie lautlos hinaufsteigen konnte, und da Alexandra nichts hörte, musste er, so wie sie hinter der Küchentür, noch immer auf der vierten Stufe stehen. Was diesen Mann anging, beschäftigte sie nur eine einzige Frage. Würde sie es fertigbringen, wenn es so weit war? Alexandra war sich inzwischen sicher, dass er es war, nach dem die Polizei seit Monaten suchte. Keiner hatte ihr Glauben geschenkt, wenn sie vom Dachboden berichtete, von unerklärlichen Geräuschen. Nicht einmal die Gestalt mit der Perücke hatte Harris hellhörig werden lassen, weil sie meinten, in Dirk oder Robert den Mörder gefunden zu haben. Viel zu beschäftigt mit innerbetrieblichen Machtkämpfen und erpicht auf den schnellen Erfolg, hatten sie den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Das wirklich Verheerende aber war, dass sie meinten, nicht weitersuchen zu müssen. Alexandra würde also mit diesem Irren allein bleiben, gefangen im eigenen Haus, eingeschlossen von Wasser, welches stetig stieg. Dass Harris sich meldete, war nach den Ereignissen der letzten Nacht nicht zu erwarten, dafür hatte sie ihn mit ihren Verdächtigungen und ihrer anschließenden Flucht zu sehr beleidigt.
Es blieben also nur zwei Varianten: die direkte Konfrontation mit
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