Nachts wenn der Teufel kam
Augenblick, tippt mit den Fingern an die Stirn und sagt dann schnell: »Ach nee, det war die mit dem Kind. Jetzt weeß ick es, da war noch een kleenes Kind bei.«
»Und was hat das Kind gemacht?«
»Jeschrien und jeweint.«
»Und trotzdem hast du die Mutter umgebracht?«
Bruno grinst idiotisch.
»Es war mal wieder soweit. Und det Kind hat ja nischt davon jespürt.«
Die Mitglieder der Sonderkommission lassen ihn ausreden. Jetzt erst merkt Bruno Lüdke, daß sie das übliche, irgendwie freundliche Gesicht nicht mehr zeigen.
»Wat kann ick denn dafür, wenn die een Kind dabei hat«, meint er beschönigend.
In dieser Sekunde geschieht es. So schnell, daß niemand mehr eingreifen kann. Dem sonst so ruhigen, beherrschten Kriminalobersekretär S. gehen die Nerven durch. Mit einem Satz springt er auf Bruno zu und schlägt ihn, so fest er kann, drei-, viermal in das Gesicht.
»Du Schwein!« brüllt er. »Du gottverdammtes Schwein!«
Gleich hat er sich wieder in der Gewalt.
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar«, wendet er sich an den Chef der Sonderkommission, »ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich habe selbst kleine Kinder zu Hause. Lösen Sie mich ab, ich kann nicht mehr.«
Der Mörder wimmert.
»Ick hab' dem Kind doch jar nischt jemacht. Ick bin doch einfach weggeloofen.«
Franz läßt die Vernehmung abbrechen. Er ist selbst auf der Kippe. Dabei steht ihm das Schlimmste noch bevor.
Und weiter geht die Fahrt zu den Stationen des Grauens. Es dauert Tage, bis Bruno Lüdke den Zwischenfall mit Kriminalobersekretär S. vergessen hat. Tagelang weigert er sich, den Beamten der Kommission Rede und Antwort zu stehen. Seine Vorliebe für Zigaretten öffnet ihm endlich wieder den Mund. Bald willig, bald mühsam läßt er sich zu Antworten herbei.
Kriminalkommissar Franz nimmt sich zuerst der Fälle an, die sich in der Umgebung der Reichshauptstadt abspielten. Immer noch bringt die Post beinahe täglich neue Schreckensmeldungen örtlicher Polizeistellen. Es läßt sich noch kein Ende absehen. Immer wieder erfolgen neue Eintragungen in die entsetzliche Statistik, die der Analphabet Lüdke mit Blut geschrieben hat.
Über ein Jahr werden sich die Ermittlungen hinziehen. Die Sonderkommission muß sich mit Schwierigkeiten herumschlagen, wie sie das Kriegsjahr 1944 zwangsläufig bereithält. Entweder es ist kein Wagen da oder es fehlt an Benzin. Oder die Zeugen stehen an der Front, sind ausgebombt oder unauffindbar. Im Hintergrund tobt sich der ständige Kampf im Reichssicherheitshauptamt aus. Eine Zeitlang sieht es aus, als ob die Gestapo die Bearbeitung des Falles übernehmen wollte. Sie hätte ohne Zweifel den Köpenicker Mordfall auf seine Weise erledigt: den Mörder liquidiert und weitere Ermittlungen eingestellt.
Kriminalkommissar Franz muß täglich einen Bericht über die Arbeit der Sonderkommission abliefern. Noch am selben Tag muß dieses Resümee vom Reichskriminalpolizeiamt der SS weitergeleitet werden. Himmler läßt sich persönlich berichten. Das Reichspropagandaministerium hat sich bereits eingeschaltet. Während irgendwo in der Nähe von Berlin Bruno Lüdke von Schauplatz zu Schauplatz gefahren wird, konferieren Himmler und Goebbels hinter verschlossenen Türen. Nochmals werden anschließend die mit dem Fall Lüdke beauftragten Beamten zur äußersten Verschwiegenheit angehalten. Auf Wunsch Himmlers sind sie erneut auf ihre politische Zuverlässigkeit zu überprüfen.
In vier Wochen klärt die Sonderkommission weitere sieben Morde.
Am 2. Oktober 1924 war die junge, brünette Stenotypistin Hildegard Wechselbaum in Leipzig ermordet worden, als sie nach einem Heimabend des Jugendbundes allein nach Hause ging. Der Täter überfiel sie auf der Eisenbahnüberführung der Berliner Straße, erwürgte und missbrauchte sie und warf die Tote dann aus fünf Meter Höhe auf den Fußweg.
Immer wieder ließ sich damals die Staatsanwaltschaft Leipzig den Akt Wechselbaum vorlegen. Man suchte den Mörder unter den Bekannten der Toten. Nacheinander kamen vier junge Männer in Haft. Aber es lag nichts gegen sie vor außer der Tatsache, daß sie die Ermordete gekannt hatten.
Der wahre Mörder heißt Bruno Lüdke.
Am 12. Mai 1925 wurde die 53jährige Waschfrau Berta Holdschuh in Friedrichsroda in Thüringen im Zimmer 121 des Kaufmannserholungsheimes tot aufgefunden. Man verdächtigte die Insassen der Anstalt. Man verdächtigte sie grundlos.
Der wahre Mörder heißt Bruno Lüdke.
Das nächste Opfer war Alma
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