Nachts wenn der Teufel kam
den ersten Justizirrtum gestoßen ist. Das bedeutet, daß das Leben des Steuerberaters Georg Scheidel am 28. April 1929 grundlos zerstört worden ist …
Georg Scheidel ist ein junger, hochgewachsener Mann, der sein Steuerberaterexamen mit Auszeichnung bestand und sich in den letzten Jahren eine gut gehende Praxis in Gotha aufbaute. Er hat Arbeit in Hülle und Fülle. Er verdient ausgezeichnet. Überall sieht man den flotten, lebenslustigen Junggesellen gern.
An diesem Tag, dem 29. April 1929, steht er wie immer um acht Uhr auf, sitzt um acht Uhr dreißig am Frühstückstisch und liest die Morgenzeitung. Er überfliegt die Politik und blättert zur Lokalseite weiter. Erstarrt liest er die Schlagzeile: »Alte Frau bestialisch ermordet. Tragödie in der Hützelgasse. Wer sah den Mörder?«
Im ersten Impuls möchte er die Zeitung weglegen, möchte er alles für Unsinn halten, möchte er seine Tagesordnung wie jeden Morgen einhalten. Er kannte die alte Frau gut. Sie gehörte zu seinen Klienten, und er sah sie gestern noch, gestern morgen um zehn Uhr, unmittelbar bevor sie ermordet wurde. Wenn die Tatzeit in der Zeitung genau angegeben ist, müßte er ihrem Mörder noch begegnet sein.
Um neun Uhr sind die ersten Kunden bei Georg Scheidel. Sie wundern sich, wie verstört und zerfahren der junge Steuerberater wirkt. Später werden sie es sogar der Polizei zu Protokoll geben.
Um zehn Uhr hat Scheidel eine kurze Pause zwischen zwei Besprechungen. Er greift zum Telefonhörer, um die Mordkommission anzurufen. Aber er unterlässt es im letzten Augenblick. Wie, wenn man ihn mit der Bluttat in Zusammenhang brächte? Wenn man ihn tagelang als Zeugen benötigte, während hier seine Klienten ungeduldig auf die Abfertigung warteten? Wenn man ihn verdächtigte? Wenn sein Name plötzlich im Zusammenhang mit dem Mord in der Zeitung stünde?
Georg Scheidel entschließt sich, nicht überstürzt zu handeln. Die Sache will durchdacht sein und ist nicht mit einem Telefonanruf zu erledigen. Er nimmt sich vor, am Nachmittag zur Polizei zu gehen.
Inzwischen ist es elf Uhr geworden, und da geschieht das Furchtbare – mitten in einer Besprechung. Zwei Kriminalbeamte platzen herein.
»Sind Sie Georg Scheidel?«
» Ja .«
»Sie sind verhaftet!«
»Wieso?« entgegnet der Steuerberater entgeistert.
»Das werden Sie gleich erfahren«, antwortet einer der Beamten barsch.
Die nächsten Stunden, Tage und Wochen erlebt der Festgenommene wie einen verwirrenden Alptraum.
»Sie haben sie ermordet«, sagt man immer wieder zu ihm. »Geben Sie zu, daß Sie der Mörder sind. Sie haben sie umgebracht und bestohlen. Dann täuschten Sie einen Lustmord vor, um die Spur von sich abzulenken.«
Fassungslos vernimmt er die Beschuldigungen. Immer wieder beteuert er seine Unschuld, aber die ihn vernehmenden Beamten haben nur Verachtung und Spott für ihn. Am Tatort stellten sie fest, daß der Mörder Raucher war. Genauer gesagt: Zigarrenraucher. Drei Zigarrenstummel fanden sich im Aschenbecher. Und sie wiesen ein bestimmtes Merkmal auf: Sie waren zerkaut. Alle drei. Der Mörder mußte ein Mann sein, der die Angewohnheit hat, Zigarrenstummel zu zerbeißen.
Einen solchen Mann suchte die Gothaer Kriminalpolizei vierundzwanzig Stunden lang hektisch. Dann hatte sie drei Namen. Die Namen dreier Einwohner von Gotha. Einer von ihnen mußte ihrer Theorie nach der Mörder sein.
Jeder kennt in Gotha Georg Scheidel. Zwei Zeugen haben ihn gesehen, wie er die Wohnung von Ida Curth betrat, unmittelbar bevor die alte Frau auf so schreckliche Weise ums Leben kommen sollte.
An einen Zufall – wie er tatsächlich vorlag – würde die Polizei vielleicht noch glauben, wenn sich der Steuerberater freiwillig als Zeuge gemeldet hätte. Georg Scheidel wird seine Unterlassungssünde mit monatelanger Haft, mit Zerstörung seiner Existenz, mit dem lebenslänglichen Odium, ein Mörder zu sein, bezahlen müssen.
»Sie waren also in der Wohnung?«
» Ja .«
»Um neun Uhr dreißig?«
»Genau weiß ich die Zeit natürlich nicht.«
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich hatte eine Besprechung mit meiner Klientin.«
»Und so kurz war Ihre Besprechung?«
»Ja. Es war nur eine einfache Auskunft. Ich bin zufällig an ihrem Haus vorbeigekommen und dachte, es wäre besser, wenn ich ihr gleich Bescheid sagte, als ihr zu schreiben. Ich war nur ein paar Minuten da.«
»Und in diesen paar Minuten haben Sie drei Zigarren geraucht?«
»Ich bin ein starker Raucher. Vielleicht dauerte
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