Nachts wenn der Teufel kam
worden?«
Frau Grade denkt einen Augenblick nach.
»Ach ja«, sagt sie, »ich habe es schon fast vergessen. Man hat ja so viele Aufregungen im Krieg. Sicher, ich habe das damals ja bei der Polizei angezeigt.«
Kriminalkommissar Franz nickt. Jede Einzelheit der Akten hat er im Kopf. Er weiß, daß es vormittags um zehn Uhr bei Frau Grade klingelte, daß ein mittelgroßer, untersetzter Mann im Türrahmen stand, mit dem Fuß die Tür blockierte, bevor die ahnungslose Frau sie schließen konnte. Dann drang er in die Wohnung ein, schloß die Tür hinter sich und stürzte sich auf die Hausfrau.
»So war es doch?« fragt Kriminalkommissar Franz. »Und wie ist es dann weitergegangen?«
»Ich habe um Hilfe geschrien. Und dann kamen meine Kinder.«
»Alle fünf?«
»Alle. Es waren nämlich gerade Schulferien. Nur Erika natürlich nicht. Sie war ja erst drei Jahre alt damals. Die Kinder haben furchtbar geschrien. Und Fritz hat, glaube ich, sogar auf ihn eingeschlagen.«
»Ja«, sagt Franz.
»Der Mann sprang auf und lief hinaus«, fährt die Zeugin fort. »Ein paar Leute haben ihn noch verfolgt, aber er ist entkommen.«
»Sie haben den Mann nie zuvor gesehen?«
»Nein, niemals.«
»Würden Sie ihn wieder erkennen?«
»Ich glaube schon.«
»Hören Sie mir gut zu«, fährt der Kriminalkommissar fort, »wenn Sie nicht sicher sind, sagen Sie ruhig nein. Ich werde Ihnen jetzt einen Mann zeigen. Sie sollen ihn nur ansehen und ja oder nein sagen, dann ist alles für Sie erledigt, und Sie können wieder nach Hause gehen.«
Frau Grade nickt.
Der Kriminalkommissar gibt einem Beamten einen Wink. Bruno Lüdke wird zur Tür hereingeführt. Er bleibt stehen und grinst.
»Hab'n wir Besuch heute?« fragt er.
»Kennst du diese Frau noch?« unterbricht ihn Franz.
»Kann schon sein. So jenau weeß ick det nich.«
Der Chef der Sonderkommission sieht die Zeugin fragend an. Im gleichen Augenblick sagt Frau Grade sehr bestimmt: »Er ist es mit Sicherheit.«
Bruno wird sofort wieder abgeführt.
»Einen Augenblick noch, Frau Grade«, sagt Franz, »ich will das nur noch schnell zu Protokoll nehmen.«
Er fertigt eine kurze Aktennotiz an, daß eine der Überfallenen Bruno Lüdke als den Täter wieder erkannt hat.
»Was wollte der Mann eigentlich von mir?« fragt Frau Grade beim Abschied. »Er hat es sicher auf Geld abgesehen gehabt, nicht?«
»Sicher«, antwortet Franz. Das beflissene Lächeln ist aus seinem Gesicht gewichen. Der junge Beamte ist auf einmal blass und ernst.
»Danken Sie Gott und Ihren Kindern«, sagt er, »daß es nicht anders gekommen ist.«
Für Frau Elisabeth Grade aus der Siedlung von Alt-Glienicke ist der Fall Bruno Lüdke damit erledigt.
Und weiter fährt die ›Sonderkommission Bruno Lüdke‹ durch Deutschland, der Arbeit an der Rekonstruktion einer sich über drei Jahrzehnte hinziehenden Mordserie entgegen. Vorbei an brennenden Häusern, an zerbombten Bahnhöfen, an blassen, ausgemergelten Frauen, an blutjungen oder viel zu alten Soldaten. Wie ein Besessener hetzt der junge Kriminalkommissar seine Leute durch Deutschland. Schon drängen die Vorgesetzten auf den Abschlußbericht, er aber hat sich in den Kopf gesetzt, sämtliche Morde zu klären, bevor man mit Bruno Lüdke Schluss macht.
In diesen heißen Sommertagen des Juni 1944 kommt die Polizei nicht mehr weiter. Das Sonderkontingent an Benzin ist verbraucht. Soll daran die Aufklärung des größten Massenmordes der Kriminalgeschichte scheitern?
Franz spricht beim Reichskriminalpolizeiamt vor. Der Behörden-Chef, Arthur Nebe, einer der bekanntesten deutschen Kriminalisten – er beteiligt sich wenige Tage später am Aufstand des 20. Juli –, muß persönlich eingreifen, um den Fall Lüdke vorwärtszutreiben. Er schreibt an die zuständigen Polizeidienststellen:
›Die Bearbeitung des Mordfalles Bruno Lüdke liegt im Interesse Ihres Bezirks. Deshalb ordne ich an, daß der Betriebsstoff für den Kraftwagen, mit dem die Sonderkommission unterwegs ist, von der jeweiligen Kriminalpolizeidienststelle gestellt werden muß. gez. Nebe, SS-Gruppenführer.‹
Jeden Tag und jede Nacht sind die Beamten der Sonderkommission mit dem Mörder zusammen, machen gute Miene zum entsetzlichen Spiel, zwingen sich, ihm freundlich zu begegnen, Scherze mit ihm zu treiben, sogar Briefe für ihn zu schreiben, um ihn bei guter Laune zu erhalten. Mitunter bildet sich, so paradox es klingt, ein fast familiärer Ton heraus.
In einer dieser Stunden, da Bruno Lüdke besonders
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