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Nachts

Nachts

Titel: Nachts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Händen und formte allmählich einen klebrigen Ball daraus. Er hatte gedacht, der Geruch könnte die schlimmste Prüfung sein, welche die rote Lakritze ihm auferlegte, aber er hatte sich geirrt. Die Beschaffenheit war noch schlimmer und die Farbe färbte auf seine Finger und Handflächen ab und verlieh ihnen ein bedrohlich dunkelrotes Aussehen. Er machte trotzdem weiter und hielt nur etwa alle dreißig Sekunden inne, um der weichen Masse den Inhalt einer weiteren Packung hinzuzufügen.
    »Vielleicht übertreibe ich alles«, sagte er. »Vielleicht ist lediglich gute alte Tapferkeit das Gegenteil von Angst. Mut, wenn dir ein einfacheres Wort lieber ist. Ist es das? Ist das alles? Ist Tapferkeit der Unterschied zwischen Naomi und Sarah?«
    Sie sah verblüfft auf. »Willst du mich damit fragen, ob Tapferkeit dazugehört hat, mit dem Trinken aufzuhören?«
    »Ich weiß nicht, was ich damit fragen will«, sagte er, »aber ich glaube, du bist auf der richtigen Spur. Nach Angst muß ich nicht fragen, ich weiß, was das ist. Angst ist eine Empfindung, die Veränderungen einpfercht und unmöglich macht. War es eine tapfere Tat, als du zu trinken aufgehört hast?«
    »Ich habe es eigentlich nie aufgegeben«, sagte sie. »So machen Alkoholiker das nicht. Sie können es nicht. Statt dessen macht man sich eine Menge Umwege des Denkens zunutze. Ein Tag nach dem anderen, es geht langsam voran, leben und leben lassen, und so weiter. Das Wesentliche ist: Man glaubt nicht mehr, daß man sein Trinken kontrollieren kann. Diese Überzeugung war ein Mythos, den man sich selbst eingeredet hat, und den gibt man auf. Den Mythos. Sag mir ist das Tapferkeit?«
    »Freilich. Aber ganz sicher keine Fuchsbautapferkeit.«
    »Fuchsbautapferkeit«, sagte sie und lachte. »Das gefällt mir.
    Aber du hast recht. Was ich mache was wir machen , das ist nicht die Art von Tapferkeit. Trotz eines Films wie Das verlorene Wochenende finde ich ziemlich unspektakulär, was wir machen.«
    Sam erinnerte sich an die gräßliche Apathie, die über ihn gekommen war, nachdem er im Gebüsch an der Seite der Zweigstelle Briggs Avenue der öffentlichen Bibliothek von St. Louis vergewaltigt worden war. Von einem Mann vergewaltigt, der sich selbst Polizist genannt hatte. Auch das war ziemlich unspektakulär gewesen. Ein schmutziger Trick, mehr war es nicht gewesen ein schmutziger, hirnloser Trick, den ein Mann mit ernsten Geistesproblemen einem kleinen Kind gegenüber angewandt hatte. Sam überlegte: Wenn man alles zusammenrechnete, konnte er sich glücklich schätzen. Der Bibliothekspolizist hätte ihn ermorden können.

    Vor ihnen leuchteten die runden Kugeln, welche die öffentliche Bibliothek von Junction City begrenzten, im Regen. Naomi sagte zögernd: »Ich glaube, das wirkliche Gegenteil von Angst könnte Ehrlichkeit sein. Ehrlichkeit und Glaube. Wie hört sich das an?«
    »Ehrlichkeit und Glaube«, sagte er leise und kostete die Worte.
    Er drückte den klebrigen roten Lakritzeball in der rechten Hand.
    »Nicht schlecht, glaube ich. Wie auch immer, es muß genügen. Wir sind da.«

    6

    Die grünen Leuchtziffern der Uhr am Armaturenbrett des Autos zeigten 19:57. Sie hatten es doch vor acht geschafft.
    »Vielleicht sollten wir warten und uns vergewissern, ob wirklich alle gegangen sind, ehe wir uns nach hinten schleichen«, sagte sie.
    »Das finde ich eine gute Idee.«
    Sie fuhren in eine freie Parklücke gegenüber vom Eingangsbereich der Bibliothek. Die Kugeln schimmerten zart im Regen. Das Rauschen der Bäume dagegen war weniger zart; der Wind nahm immer noch zu. Die Eichen hörten sich an, als würden sie träumen
    allesamt Alpträume.
    Zwei Minuten nach acht hielt ein Kleinbus mit einem PlüschGarfield und dem Schild MOM’S TAXI an der Heckscheibe gegen
    über von ihnen. Er hupte, worauf die Tür der Bibliothek die selbst in diesem Licht nicht so grimmig aussah wie bei Sams erstem Besuch, nicht wie der Mund im Kopf eines gigantischen Roboters aus Granit sofort geöffnet wurde. Drei Jungs der Junior HighSchool, wie es aussah, hasteten die Stufen hinunter. Während sie auf dem Gehweg zu MOM’S TAXI liefen, zogen sich zwei die Jacken über die Köpfe, um sich vor dem Regen zu schützen. Die Seitentür des Kleinbusses ging rumpelnd auf, und die Kinder drängten sich hinein. Sam konnte leise ihr Gelächter hören und beneidete sie um diese Laute. Er überlegte sich, wie schön es sein mußte, mit einem Lachen auf den Lippen aus einer Bibliothek zu kommen. Durch die

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