Nachts
Lebkuchenhäuschen aufbrach; es war auf dem Weg zu Omis Haus, wo der Wolf nur daraufwartete, es von den Füßen an aufwärts zu fressen.
Am Schluß würde er Rotkäppchen skalpieren und sein Gehirn mit einem Holzlöffel aus dem Schädel essen.
Aber das stimmte alles irgendwie nicht, denn in seinem Traum war Rotkäppchen ein Junge und das Knusperhäuschen war das zweistöckige Doppelhaus, wo er nach dem Tod seines Dad mit seiner Mutter gewohnt hatte, und in dem Korb war gar kein Essen. In dem Korb war ein Buch, Der schwarze Pfeil von Robert Louis Stevenson, und er hatte es gelesen, jedes Wort, und er war auch nicht auf dem Weg zu Großmutters Haus, sondern zur Zweigstelle Briggs Avenue der öffentlichen Bibliothek von St. Louis, und er mußte sich beeilen, weil sein Buch schon vier Tage überfällig war.
Dies war ein Traum zum Zusehen.
Er sah zu, wie Weißsamchen an der Ecke Dunbar Street und Johnstown Avenue darauf wartete, daß die Ampel umsprang. Er sah zu, wie er mit dem Buch in der Hand über die Straße hüpfte
der Korb war nicht mehr da. Er sah zu, wie Weißsamchen das Dunbar Street News betrat, und dann war er auch drinnen, roch und nahm die altbekannte Geruchsmischung aus Kampfer, Zuckerwaren und Pfeifentabak wahr und sah zu, wie Weißsamchen sich mit einem Fünfcentpäckchen rote Lakritze Marke Bullś Eye seine Lieblingsmarke dem Tresen näherte. Er sah zu, wie der kleine Junge vorsichtig den Dollarschein herausnahm, den seine Mutter hinten in die Leihkartenlasche von Der schwarze Pfeil gesteckt hatte.
Er beobachtete, wie der Verkäufer den Dollar nahm und fünfundneunzig Cent Wechselgeld herausgab mehr als genug, die Strafe zu bezahlen. Er sah zu, wie Weißsamchen das Geschäft verließ und auf der Straße gerade so lange stehenblieb, bis er das Wechselgeld in die Tasche gesteckt und das Päckchen mit den Zähnen aufgerissen hatte. Er sah zu, wie sich Weißsamchen auf den Weg machte es waren jetzt nur noch drei Blocks bis zur Bibliothek
und dabei lange rote Schlangen Lakritze mampfte.
Er versuchte, dem Jungen zuzurufen.
Vorsicht! Vorsicht! Der Wolf wartet, kleiner Junge! Hüte dich vor dem Wolf! Hüte dich vor dem Wolf.
Aber der Junge marschierte weiter und aß seine rote Lakritze; inzwischen war er auf der Briggs Avenue und die Bibliothek, ein gewaltiger Stapel roter Backsteine, ragte düster vor ihm auf.
An dieser Stelle versuchte Sam der große Sam im Flugzeug
sich aus dem Traum herauszuziehen. Er spürte, daß Naomi und Stan Soames und die Welt wahrhafliger Dinge sich gerade außerhalb dieser Eierschale des Alptraums befanden, in die er geraten war.
Hinter den Geräuschen des Traums konnte er das Dröhnen des Motors der Naväjo hören: hinter dem Verkehr auf der Briggs Ave
nue, dem schrillen Rrriinngggrminnnngggder Fahrradklingel eines Kindes, den Vögeln, die im dichten Mittsommerlaub der Ulmen trällerten. Er machte die Traumaugen zu und sehnte sich nach dieser Welt außerhalb der Eierschale, der Welt wahrhaftiger Dinge. Und mehr: Er spürte, er konnte sie erreichen, konnte sich durch die Schale hämmern
Nein, sagte Dave. Nein, Sam, tun Sie das nicht. Das dürfen Sie nicht tun. Wenn Sie Sarah vor Ardelia retten wollen, befreien Sie sich nicht aus diesem Traum. Es gibt nur einen Zufall in dieser Angelegenheit, und der ist tödlich: SIE haben auch einmal einen Bibliothekspolizisten gehabt. Und Sie müssen diese Erinnerungen zurückholen.
Ich will ihn nicht sehen. Ich will es nicht wissen. Einmal war schlimm genügt.
Nichts ist so schlimmm wie das, was Sie erwartet, Sam. Nichts.
Er machte die Augen auf nicht die äußeren, sondern die inneren; die Traumaugen.
Jetzt ist Weißsamchen auf dem Betonweg, der zur Ostseite der Bibliothek führt, dem Betonweg, der zur Kinderabteilung führt. Er bewegt sich in einer Art unheilschwangerer Zeitlupe, jeder Schritt von ihm ist wie das leise Wusch des schwingenden Pendels in Groß
vaters Uhr, und alles ist klar und deutlich: die winzigen Glimmerund Quarzstückchen, die im Betonweg funkeln; die fröhlichen Rosen am Weg entlang; das dichte grüne Buschwerk an der Seitenwand des Gebäudes; die Efeuranken auf den roten Backsteinen; die seltsame und irgendwie furchteinflößende lateinische Inschrift, Fuimus, non sumus, die in einem Halbkreis über den grünen Türen mit ihren dicken, drahtverstärkten Glasscheiben graviert ist.
Und auch der Bibliothekspolizist, der auf den Stufen steht, ist klar und deutlich.
Er ist nicht blaß. Er ist gerötet. Er
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