Nachtschicht
Sie fand einen blauen Pokerchip, auf den mit roter Tinte ein seltsames sechseckiges Zeichen gemalt war.
Einen vergilbten Zeitungsausschnitt - die Todesanzeige von Mr. und Mrs. Edward Hainner. Auf dem daneben abgedruckten Foto lächelten die beiden nichtssagend, und über ihre Gesichter war dasselbe sechseckige Zeichen gemalt, dieses Mal mit schwarzer Tinte, wie ein Bahrtuch. In der Dose lagen zwei weitere Puppen, eine weibliche und eine männliche. Die Ähnlichkeit mit den Personen auf dem Foto war unverkennbar, erschreckend.
Und sie fand noch etwas.
Sie klaubte es aus der Dose, wobei ihre Finger so heftig zitterten, daß sie es beinahe fallengelassen hätte. Sie stieß einen unterdrückten Laut aus.
Es war ein Modellauto von der Art, wie Jungen es sich in Spielzeuggeschäften und-Bastelläden kaufen und dann mit Plastikkleber zusammensetzen. Dieses Modell war ein Fiat, mit roter Farbe angemalt. Und an der Motorhaube klebte ein Stückchen Stoff, das von einem von Tonys Hemden stammen konnte.
Sie drehte das Modellauto um. Jemand hatte die Unterseite zertrümmert.
»Du hast es also gefunden, du undankbares Biest.«
Sie stieß einen Schrei aus und ließ Auto und Blechdose fallen.
Seine gräßlichen Schätze wurden über den Boden verstreut.
Er stand in der Tür und schaute sie an. Einen so haßerfüllten Ausdruck hatte sie noch nie auf dem Gesicht eines Menschen gesehen.
»Du hast Tony umgebracht«, schleuderte sie ihm entgegen.
Er grinste boshaft. »Glaubst du, du könntest das beweisen?«
»Das spielt keine Rolle«, antwortete sie, selbst überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang. »Ich weiß es jedenfalls. Und ich wifl dich nie wiedersehen. Niemals. Und wenn du … irgendwen … irgend etwas antust … werde ich Bescheid wissen. Dann sorge ich dafür, daß es dir an den Kragen geht.«
In seinem Gesicht zuckte es. »Das ist also der Dank, den ich von dir bekomme. Ich habe dir alles gegeben, was du wolltest, ich bin auf dich eingegangen, wie kein anderer Mann es gekonnt hätte. Gib’s zu. Ich habe dich vollkommen glücklich gemacht.«
»Du hast Tony umgebracht!« schrie sie.
Er trat einen Schritt in den Raum hinein. »Ja, aber ich tat es für dich. Was für ein Mädchen bist du, Beth? Du weißt gar nicht, was Liebe ist. Ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal sah, das war vor über siebzehn Jahren. Konnte Tony das von sich behaupten? Du hast es im Leben nie schwer gehabt. Du bist hübsch. Du hast nie etwas entbehrt und warst nie einsam. Du mußtest nie … andere Wege suchen, um dir das zu verschaffen, was du gern wolltest. Es gab immer einen Tony, der etwas für dich tat. Du brauchtest bloß zu lächeln und ›bitte, birte‹ zu sagen.« Seine Stimme hob sich: »Ich habe auf diese Weise nie etwas bekommen. Glaubst du, ich hätte es nie versucht? Bei meinem Vater half es nicht. Er wollte selbst immer nur mehr und mehr. Er gab mir nicht mal einen Gutenachtkuß oder nahm mich in den Arm. Bis ich ihn reich machte. Und meine Mutter war genauso. Ich rettete ihre Ehe, aber meinst du, sie wäre zufrieden gewesen? Sie haßte mich!
Sie wollte nicht in meine Nähe kommen! Sie sagte, ich sei nicht normal. Ich sorgte dafür, daß sie viele schöne Dinge bekam, aber … Beth, das darfst du nicht tun! Nein … neiiin -«
Sie setzte den Fuß auf die Puppe Elizabeth, zertrat sie mit dem Absatz. Etwas in ihr krümmte sich in einer Todesqual, dann war es vorbei. Jetzt fürchtete sie sich nicht mehr vor ihm.
Er war nur ein kleiner, schmächtiger Junge mit dem Körper eines Erwachsenen. Und er trug zwei verschiedene Socken.
»Ich glaube, jetzt kannst du mir nichts mehr antun, Ed«, sagte sie. »Jetzt nicht mehr. Habe ich recht?«
Er wandte sich ab. »Geh«, sagte er mit dünner Stimme. »Geh schon. Aber laß die Blechdose hier. Tu mir wenigstens diesen Gefallen.«
»Die Dose lasse ich hier. Aber den Inhalt nehme ich mit.« Sie ging an ihm vorbei. Seine Schultern zuckten, als ob er sich nach ihr umdrehen und sie festhalten wollte, doch dann sackte er in sich zusammen.
Als sie den zweiten Treppenabsatz erreichte, kam er auf den Flur hinausgerannt und kreischte ihr hinterher: »Dann geh doch! Aber nach mir wirst du mit keinem anderen Mann mehr zufrieden sein! Und wenn du alt und häßlich bist und sich kein Mann mehr um dich kümmert, wirst du dich noch nach mir zurücksehnen! Dann wirst du begreifen, was du verschmäht hast!«
Sie lief die Treppe hinunter und trat hinaus in das Schneetreiben. Es tat ihr gut,
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