Nachtschicht
können. Er ließ seinen Vater beim Roulette gewinnen und verschaffte ihm durch Börsenspekula-tionen ein Vermögen. Offenbar kann er das Glück herbeizwin-gen. Vielleicht ist er mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, eine Art Medium. Vielleicht kann er hellsehen. Ich weiß es nicht. Offenbar gibt es Menschen mit dieser Begabung. Liz, ist dir noch nie in den Sinn gekommen, daß er dich gezwungen hat, ihn zu lieben?«
Langsam drehte sich Liz zu ihr um. »Etwas so Albernes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.«
»Findest du das albern? Er verschaffte dir die Soziologieklausur mit den gleichen Mitteln, mit denen er seinem Vater am Roulettetisch zu einem Gewinn verhalf! Er hatte nie eine Veran-staltung in Soziologie belegt! Das habe ich nachgeprüft. Er gab dir den Test, weil es für ihn die einzige Möglichkeit war, sich dir zu nähern.«
»Hör endlich auf!« schrie Liz. Sie hielt sich die Ohren zu.
»Er wußte, wie die Klausur ausfallen würde, er wußte, daß Tony verunglückt war, und er wußte, daß du nach Hause fliegen wolltest. Er wußte sogar, wann der psychologisch richtige Moment gekommen war, als er sich letzten Oktober wieder bei dir meldete.«
Elizabeth riß sich von ihr los und öffnete die Tür.
»Bitte«, flehte Alice. »Bitte, Liz, hör auf mich. Ich weiß nicht, wie er so etwas macht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er sich selbst hundertprozentig darüber im klaren ist. Vielleicht will er dir gar nichts Böses antun, aber das Unheil hat er schon angerichtet. Er hat dich dazu gebracht, ihn zu lieben, weil er deine geheimsten Wünsche und Sehnsüchte kennt, aber das hat mit Liebe nichts zu tun. Das ist eine Vergewaltigung.«
Elizabeth warf die Tür hinter sich ins Schloß und rannte die Treppen hinunter.
Sie bekam den letzten Bus, der an diesem Abend stadteinwärts fuhr. Der Schnee fiel noch dichter, und der Bus holperte über die zugewehte Straße wie ein verletzter Käfer. Elizabeth saß ganz hinten in dem fast leeren Bus, und in ihrem Kopf kreisten tausend Gedanken.
Mentholzigaretten. Die Börse. Woher wußte er, daß der Spitzname ihrer Mutter Deedee war? Ein kleiner Junge, der in einem Klassenzimmer sitzt und mit großen Augen ein lebhaftes kleines Mädchen beobachtet, das zu jung ist, um ihn zu verstehen -
Ich weiß, was du brauchst.
Nein. Nein. Nein. Und ich liebe ihn trotzdem.
Stimmte das? Oder gefiele? ihr nur, mit jemand zusammenzusein, der immer das richtige Essen bestellte, mit ihr in den richtigen Film ging, und nichts wollte oder tat, wozu sie keine Lust hatte? War er vielleicht bloß eine Art Spiegel für ihre Seele,
der ihr immer nur das zeigte, was sie sehen wollte? Die Geschenke, die er ihr machte, entsprachen immer haargenau ihrem Geschmack. Als es plötzlich kalt wurde und sie sich einen Heizlüfter wünschte, wer hatte ihr einen geschenkt? Ed Hamner natürlich. Er hätte ihn zufällig im Sonderangebot gesehen, hatte er ihr erzählt. Selbstverständlich hatte sie sich darüber gefreut.
Dos hat mit Liebe nichts zu tun. Das ist eine Vergewaltigung.
Der Wind biß ihr ins Gesicht, als sie an der Ecke Main und Mill Street ausstieg, und mit hochgezogenen Schultern stemmte sie sich dagegen, während der Bus mit einem satten Dieselgebrumm davonfuhr. Für kurze Zeit blinkten die Rücklichter noch durch das Schneetreiben, dann waren sie verschwunden.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt.
Er war nicht zu Hause.
Nachdem sie fünf Minuten lang geklopft hatte, stand sie ratlos vor der Tür. Ihr fiel ein, daß sie keine Ahnung hatte, was Ed tat oder mit wem er sich traf, wenn er nicht mit ihr zusammen war. Über dieses Thema hatten sie nie gesprochen.
Vielleicht gewinnt er gerade beim Poker das Geldßr einen zweiten Heizlüfter.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit den Fingern den Türrahmen entlang, denn sie wußte, daß Ed dort einen Ersatzschlüssel aufbewahrte. Sie fand ihn, und klirrend fiel er zu Boden.
Sie hob ihn auf und steckte ihn ins Schloß.
Ohne Ed sah die Wohnung ganz anders aus - unecht, wie eine Bühnenkulisse. Sie hatte sich oft darüber amüsiert, daß jemand, der auf seine äußere Erscheinung so wenig Wert legte, in einer so ordentlichen, vorbildlich aufgeräumten Umgebung wohnte. Beinahe, als hätte er die Zimmer für sie eingerichtet und nicht für sich selbst. Aber der Gedanke war natürlich absurd.
Wieder einmal kam ihr in den Sinn, wie gemütlich sie den Sessel fand, in dem sie saß, wenn sie
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