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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ansehen; und wie war das wohl mit diesem kleinen Mädchen, das einen Priester mit Erbsensuppe bespuckte, in »Der Exorzist«? In Bram Stokers »Dracuia«, den man oft als Muster des modernen Horror-Romans heranzieht (zu Recht, denn es ist der erste Roman seiner Art mit offenkun-digen Freudschen Obertönen), kommt ein Verrückter namens Renfeld vor, der Fliegen herunterschlingt. Spinnen und schließlich einen ganzen Vogel. Er würgt den Vogel wieder aus, nachdem er ihn mit Federn und allem geschluckt hat. ?um Roman gehört auch die Pfählung - die rituelle Penetration, kann man sagen - eines jungen und schönen weiblichen Vampirs und der Mord an einem Baby und seiner Mutter.
    Auch die große Literatur des Übernatürlichen weist oft dasselbe »Laß uns den Unfall genauer ansehen«-Syndrom auf: Beowulf erschlägt Grendels Mutter; der Erzähler in »Dos verräterische Herz«, der seinen kranken Wohltäter umbringt und zerstückelt unter den Dielen versteckt; der grimmige Kampf von Sam, dem Hobbit, mit der Spinne Kankra in Tolkiens »Ring-Trilogie«.
    Einige werden hier gegen diese Gedankenführung sehr entschieden einwenden, daß es auch subtilere Geschichten gibt, daß Henry James uns in »Die Tortur« keinen Autounfall zeigt, oder daß Nathaniel Hawthornes makabre Geschichten von wesentlich besserem Geschmack zeugen als »Dracula«. Doch dies ist ein unsinniger Einwand. Auch sie zeigen uns den Autounfall; die Leichen sind bei ihnen fortgeschafft, aber man kann noch immer die zerquetschten Autowracks mit dem Blut auf den Polstern sehen. In mancher Hinsicht ist sogar die klare Eindringlichkeit von Hawthorne, sein bewußtes Weglassen des Melodramatischen und sein gelehrter, vorsichtiger Tonfall der Rationalität noch viel schrecklicher als Lovecrafts Monstrositäten oder Poes Foltern in »Die Grube und das Pendel«.
    Tatsache ist einfach - und im Grunde unseres Herzens wissen wir das fast alle -, daß nur sehr wenige an dem Unfall vorbeifahren können, ohne nicht einen schnellen, neugierigen und anbehaglichen Blick auf die Autowracks zu werfen, die da vom flackernden Blaulicht eingerahmt werden. Rentner schlagen die Zeitung erst einmal auf der Seite mit den Todes-anzeigen auf, um zu sehen, wen sie überlebt haben. Wir alle sind für einen Augenblick unbehaglich gebannt, wenn wir erfahren, daß eine Janis Joplin gestorben ist, ein John Lennon oder sonst jemand, dessen Tod unerwartet eingetreten ist. Wir verspüren Entsetzen, vermischt mit einer eigenartigen Faszination, wenn wir in der Boulevard-Presse lesen, daß eine Frau auf einem kleinen Landflughafen während eines dichten Regenschauers in einen laufenden Propeller gestolpert ist, oder daß ein Mann von einer Stahlpresse erfaßt und zerquetscht wurde. Es ist nicht notwendig, weiter für diese offen-kundige Tatsache zu argumentieren: Das Leben steckt voller großer und kleiner Schrecken, aber weil die kleinen Katastro-phen diejenigen sind, die unsere Vorstellungskraft nicht überschreiten, sind sie es, die uns am deutlichsten mit unserer Sterblichkeit konfrontieren.
    Unser Interesse an solchen Westentaschen-Schrecken läßt sich nicht leugnen, aber ebensowenig läßt sich unser angeekeltes Schaudern bestreiten. Beides mischt sich auf beunruhigende Weise, und ein Nebenergebnis dieser Mixtur scheinen Schuldgefühle zu sein … Schuldgefühle, nicht unähnlich denjenigen, die wir beim Erwachen unserer Sexualität erleben.
    Es ist nicht meine Sache, jemandem zu erzählen, hier seien Schuldgefühle angebracht, genausowenig wie ich meine Romane und Kurzgeschichten rechtfertigen will. Aber zwischen Sex und Furcht läßt sich eine interessante Parallele beobachten. Während wir zur körperlichen Fähigkeit zu sexuellen Beziehungen reifen, erwacht unser Interesse an solchen Beziehungen; dieses Interesse wendet sich, soweit es nicht pervertiert wird, auf natürliche Weise der Kopulation und damit der Erhaltung unserer Art zu. Während uns unser eigenes unvermeidliches Ende bewußt wird, erwacht in uns das Gefühl für Furcht. Und ich bin der Ansicht, daß, wie alle Kopulation letztlich der Selbsterhaltung dient, alle Furcht letztlich dem Begreifen unseres unabwendbaren Todes dient.
    Es gibt die alte Geschichte über die sieben Blinden, die sieben verschiedene Teile eines Elefanten zu fassen bekommen. Einer von ihnen meinte, er hätte eine Schlange, ein anderer, er hätte ein riesiges Palmenblatt, ein dritter, er würde eine steinerne Säule berühren. Als sie ihre

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