Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Tanner musterte die Karte. »Bei allem Respekt, Mr. Boyd, aber das ist eine ganz schön lange Stecke. Wie sollen die beiden Frauen sich orientieren? Wir haben hier schon bis zu einer Woche gebraucht, um Leute zu finden, die sich verirrt hatten. Das sind unzählige Tausend Hektar. Und ein Großteil des Geländes ist ziemlich schwierig. Höhlen, Klippen, Sümpfe.«
»Das ist genau das, was sie sich aussuchen würde«, entgegnete Graham. »Je schwieriger, desto besser. Immer vorausgesetzt, dass diese Männer sie verfolgen. So könnte Brynn nämlich besser die Kontrolle behalten.«
»Wie weit ist das von hier?«, fragte einer der Trooper, der wie ein großer, muskulöser Soldat aussah. »Zehn, zwölf Kilometer? Und größtenteils mitten durchs Gelände. Außerdem ist die Schlucht eine der gefährlichsten Stellen im ganzen Park.«
»Also wirklich, es ist viel wahrscheinlicher, dass die Frauen sich hier irgendwo versteckt haben«, verkündete Tanner. »Oder dass sie zurück zur Landstraße wollen. Das wäre nur logisch.«
»Ich bin Arlens Meinung, Graham«, sagte Dahl. »Ich kenne Brynn auch, aber niemand würde in diese Richtung fliehen.
Sie würde sich nie zurechtfinden, nicht mal bei Tageslicht, mit GPS und Landkarte. Ich glaube, wir sollten uns vorläufig auf die unmittelbare Umgebung konzentrieren. Und auf die Sechs-Zweiundachtzig.«
»Schicken Sie wenigstens ein Team zur Schlucht des Snake River, Tom«, bat Graham.
»Wir haben leider nicht genug Leute. Und auf Zivilisten darf ich nicht zurückgreifen, nicht bei so gefährlichen Tätern. Es müssen bewaffnete Staatspolizisten oder Deputys sein. Und nun fahren Sie nach Hause, Graham. Joey macht sich bestimmt schon Sorgen. Er muss wissen, dass Sie für ihn da sind. Das sage ich als Vater, nicht als Cop … Ich verspreche, sobald wir etwas finden, sind Sie der Erste, den ich anrufe.«
Eric Munce begleitete Graham zurück zu seinem Pickup.
Dahl stand auf der Veranda und ließ den Blick über das Chaos vor dem Haus schweifen: über die Lichter, die Beamten, die Polizeifahrzeuge und den Krankenwagen, der lediglich zwei Leichen abtransportieren würde. Der Freund der Opfer, Paskell, hatte sich zu Graham und Munce gesellt. Sie gaben sich die Hände und schienen einander alles Gute zu wünschen.
Als der Sheriff sich wieder der Landkarte zuwandte, um den Einsatz der Suchtrupps zu planen, sprach er in Gedanken ein kurzes Gebet. Der letzte Satz lautete: Und bitte bring uns Brynn gesund zurück.
56
Von dem Transporter stieg Dampf oder Qualm oder beides auf. Doch sogar falls er brannte, würde er nicht explodieren.
Das taten sie nie.
Brynn McKenzie lag schwer atmend und unter Schmerzen auf dem Rücken. Im Kino explodiert jeder Wagen, der einen Unfall hat, dachte sie. Im wirklichen Leben passiert das nie. Sie hatte schon mindestens hundert Verkehrsunfälle aufgenommen, darunter vier Feuer, bei denen die Fahrzeuge vollständig ausgebrannt waren. Diese Brände konnten eine beachtliche Wucht und Hitze entwickeln, doch es kam dabei zu keiner Explosion.
Dennoch war Brynn natürlich so schnell sie konnte durch die Öffnung geflohen, die sich dank der herausgeflogenen Windschutzscheibe aufgetan hatte. Dabei war sie mit ihren gefesselten Händen wie eine Raupe bäuchlings über Glas und Steine gekrochen, um sich möglichst weit von dem zertrümmerten Transporter zu entfernen. Nur einmal hatte sie kurz innegehalten, um sich auf Harts Landkarte zu rollen, sie zu packen und mitzunehmen.
Sie befand sich nun ungefähr sechs Meter vor dem Fahrzeug, das am Fuß des steilen Hügels lag, den sie hinuntergerollt waren - und zwar seitlich, was ihr vermutlich das Leben gerettet hatte. Wären sie frontal über die Kante gestürzt, hätten beim ersten Aufprall die Airbags gezündet. Die folgenden Schläge jedoch hätten sie nach vorn durch die Windschutzscheibe und unter den sich überschlagenden Wagen geschleudert.
Ironischerweise hatte auch Hart zu Brynns Rettung beigetragen. Sie erinnerte sich, wie sein Körper ihren Fall gebremst hatte, roch das Aftershave, den Rauch und das Bleichmittel.
Brynn hatte überall Schmerzen und testete nun die wichtigsten Gelenke. Sie schienen alle noch zu funktionieren. Es war seltsam, diese Untersuchung ohne Einsatz ihrer immer noch auf dem Rücken verschnürten Hände vornehmen zu müssen. Die Wunde in ihrer Wange und das Zahnfleisch rund um den herausgeschossenen Zahn verursachten ihr nach wie vor die größten Qualen. Das Pochen hatte inzwischen
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