Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
gedacht. Ich rede mit ihm.«
»Das habe ich schon versucht. Er hat gar nicht zugehört.«
»So ist er eben manchmal.«
»Aber so darf er nicht sein«, sagte Graham barsch. »Das ist keine Entschuldigung. Er hat alles beharrlich geleugnet, und ich habe ihm das Skateboard für einen Monat verboten.«
»Bist du sicher …?« Brynn wollte ihren Sohn instinktiv verteidigen, Mr. Raditzkys Glaubwürdigkeit anzweifeln, sich nach dem Namen der Zeugin erkundigen und sie ins Kreuzverhör nehmen. Sie verstummte.
Graham saß mit angespannten Schultern da.
Er war noch nicht fertig.
Doch das war in Ordnung. Immerhin hatte Brynn ihn dazu aufgefordert.
»Und dann die Prügelei letztes Jahr, Brynn. Du hast behauptet, es wäre nichts Ernstes gewesen. Mr. Raditzky hat mir erzählt, was wirklich los war.«
»Der andere hat ihn schikaniert. Er …«
»… hat Joey bloß verspottet. Mit Worten, mehr nicht. Und Joey hat ihn schwer verletzt. Wir wären fast verklagt worden. Davon hast du nie etwas gesagt.«
Sie hielt inne. »Ich wollte nicht, dass es sich herumspricht«, sagte sie dann. »Also habe ich ein paar Beziehungen spielen lassen. Das war nicht ganz in Ordnung. Aber ich musste es tun. Ich wollte ihn beschützen.«
»Er ist nicht zerbrechlich, Brynn. Du verwöhnst ihn. Sein Zimmer sieht aus wie eine Spielwarenabteilung.«
»Das habe ich alles mit meinem eigenen Geld bezahlt.« Sie bedauerte die spitze Bemerkung noch im selben Moment, als sie sah, wie Graham das Gesicht verzog. Was er meinte, hatte natürlich nichts mit Geld zu tun.
»Du tust ihm mit deiner Nachsicht keinen Gefallen«, fuhr ihr Mann fort. »Du sollst ja nicht gefühllos sein. Aber du musst manchmal Nein sagen. Und ihn bestrafen, falls er nicht auf dich hört.«
»Das tue ich doch.«
»Nein, tust du nicht. Du bist eine großartige Polizistin, Brynn. Aber du hast Angst vor deinem eigenen Sohn. Es ist, als wärst du ihm etwas schuldig, als würdest du dir wegen irgendwas Vorwürfe machen und dafür auf diese Weise Buße tun. Was steckt dahinter, Brynn?«
»Du machst hier aus einer Mücke einen Elefanten. Einen verdammt großen.« Sie lachte leise auf, obwohl ihr Herz vor Kälte fast erstarrte - so wie ihre Haut, als das kalte schwarze Wasser des Lake Mondac in ihren Wagen geströmt war. »Diese Prügelei in der Schule … das war etwas zwischen Joey und mir.«
»O Brynn, aber genau das ist das Problem. Siehst du es denn nicht? Nur darum geht es hier. Es waren noch nie ›wir‹. Es sind immer nur du und Joey. Ich werde dabei bloß geduldet.«
»Das ist nicht wahr.«
»Nicht? Worum geht es dann hier?« Er vollführte eine weit ausholende Geste. »Um uns drei als Familie? Oder um dich? Dich und deinen Sohn?«
»Es geht um uns drei, Graham, ehrlich.« Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen, schaffte es aber nicht.
Wir wollen uns nicht anlügen, Brynn …
Aber das galt für Hart. Und für Keith … nicht für Graham. Das ist so falsch, dachte sie. Wie kann man schlechten Männern gegenüber aufrichtig sein, während die guten belogen und vernachlässigt werden?
Er streckte sich. Ihr fiel auf, dass ihre Bierflaschen beide genau drei viertel voll waren. »Vergiss es«, sagte er. »Lass uns zu Bett gehen. Wir brauchen Schlaf.«
»Wann?«, fragte sie.
»Wann was?«
»Wann verlässt du mich?«
»Brynn, für heute reicht’s.« Er lachte auf. »Wir reden nie miteinander, nicht über irgendwas Ernstes. Und nun finden wir kein Ende. Ausgerechnet an einem Abend wie diesem. Wir sind erschöpft. Lass uns einfach ausruhen.«
»Wann?«, wiederholte sie.
Graham rieb sich erst ein Auge, dann beide. Er ließ die Hände sinken und betrachtete einen tiefen Kratzer, den er sich irgendwann letzte Nacht im Wald zugezogen hatte. An einem Dorn oder Stein. Es schien ihn zu überraschen. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »In einem Monat. In einer Woche. Ich weiß es nicht.«
Sie seufzte. »Das habe ich kommen sehen.«
Er war verblüfft. »Es kommen sehen? Wie denn das? Ich weiß es erst seit letzter Nacht.«
Wie meinte er das? »Wer ist sie?«, fragte Brynn.
»›Sie‹?«
»Du weißt, wer. Die Frau, mit der du dich triffst.«
»Ich treffe mich mit niemandem.« Er klang verärgert, als hätte sie ihm eine billige Beleidigung an den Kopf geworfen.
Brynn überlegte kurz, ließ aber nicht locker. »Die Pokerrunden im JJ’s«, sagte sie schroff. »Manchmal gehst du hin und manchmal nicht.«
»Du hast mir nachspioniert.«
»Und du hast mich angelogen. Das habe
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