Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
wird’s überleben.«
»Wo wurde sie getroffen?«
»Ins Bein. Sie muss noch ein oder zwei Tage im Krankenhaus bleiben. Dann folgt die Reha.«
»Das tut mir leid.«
Brynn zuckte die Achseln. »Viele Leute schaffen es gar nicht erst bis zur Reha.«
»Sie hat Glück gehabt.«
Sofern man von Glück reden kann, wenn die eigene Tochter eine bewaffnete Mörderin nach Hause mitbringt.
»Ich mache jetzt Feierabend. Unsere Leute werden immer mal wieder hier vorbeischauen.«
»Danke, Jimmy. Bis morgen.«
»Du kommst zum Dienst?«
»Ja. Hast du ein Päckchen für mich?«
»Oh ja.« Barnes griff nach hinten und gab ihr eine Papiertüte. Sie schaute hinein. Die Tüte enthielt eine abgenutzte Glock aus den Beständen des Departments, zwei Reservemagazine und eine Schachtel Neunmillimeter-Hohlspitzmunition.
Barnes hielt ihr ein Klemmbrett hin. Sie quittierte den Empfang.
»Das Magazin in der Waffe ist geladen. Dreizehn Schuss. Keiner im Lauf.«
»Danke.«
»Ruh dich aus, Brynn.«
»Gute Nacht. Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Er fuhr los. Brynn überprüfte das Magazin trotzdem und lud die Pistole durch.
Die Familie betrat das Haus.
Brynn verstaute die Waffe in der Metallkassette im Schlafzimmer und ging wieder nach unten in die Küche.
Joey hatte bei der Nachbarin Pizza zu Abend gegessen. Er ging umher und musterte die Einschusslöcher in den Wänden, bis Brynn ihn anwies, er solle das sein lassen.
Dann gönnte Brynn sich eine lange Dusche unter so heißem Wasser, dass sie es gerade noch aushielt. Sie rieb sich das Haar mit einem Handtuch trocken und band es im Nacken zusammen. Ein Föhn wäre ihr zu laut gewesen. Sie wechselte den Gesichtsverband, zog sich einen Jogginganzug an und ging nach unten, wo Graham die Spaghetti vom Vorabend aufwärmte. Brynn hatte keinen Hunger, aber ihr war klar, dass sie ihrem Körper in den letzten vierundzwanzig Stunden genug zugemutet hatte. Falls sie sich nicht bald um ihn kümmerte, würde er in Kürze in den Streik treten.
Sie gingen ins Esszimmer und aßen eine Weile schweigend. Brynn lehnte sich zurück und betrachtete das Etikett ihrer Bierflasche. Sie fragte sich, was Hopfen eigentlich sein mochte.
Dann sah sie Graham an. »Was ist denn los?«
»Hmm?«
»Du wolltest im Krankenhaus etwas zu mir sagen.«
»Ich erinnere mich nicht mehr.«
»Sicher? Ich glaube, du weißt es noch ganz gut.«
»Kann sein. Aber nicht jetzt. Es ist schon spät.«
»Ich finde, jetzt ist ein guter Zeitpunkt.« Ihre Stimme war ernst.
Joey kam nach unten, setzte sich auf die grüne Couch und schaltete den Fernseher ein. Er blätterte in einem Schulbuch.
Graham steckte den Kopf zur Tür hinein. »Joey, geh nach oben. Es gibt heute kein Fernsehen.«
»Nur zehn Minuten.«
Brynn wollte sich zu Wort melden, doch Graham ging ins Wohnzimmer. Er sagte etwas, das Brynn nicht verstehen konnte.
Der Fernseher ging aus, und sie erhaschte einen kurzen Blick auf ihren Sohn, der mürrisch die Treppe hochstieg.
Was hatte das zu bedeuten?
Ihr Mann setzte sich wieder an den Tisch.
»Komm schon, Graham.« Sie redeten sich nur selten mit ihren Vornamen an. »Was ist los?«
Ihr Mann beugte sich vor, und sie sah, dass er angestrengt überlegte. »Weißt du, wie Joey sich gestern verletzt hat?«, fragte er schließlich.
»Mit seinem Skateboard? Auf dem Schulgelände?«
»Es war nicht auf dem Schulgelände. Und es waren auch nicht bloß drei Stufen auf einem Parkplatz. Er war asphaltsurfen. Weißt du, was das ist?«
»Natürlich weiß ich das. Aber Joey würde so etwas nicht tun.«
»Warum? Warum sagst du das? Du hast ja keine Ahnung.«
Sie sah ihn verwundert an.
»Er war asphaltsurfen. Er hing auf der Elden Street bei Tempo sechzig oder siebzig hinter einem Lastwagen.«
»Auf dem Highway?«
»Ja. Und das hat er den ganzen Tag gemacht.«
»Unmöglich.«
»Warum sagst du das? Eine Lehrerin hat ihn gesehen. Sein Sektionslehrer hat angerufen, Mr. Raditzky. Joey hat die Schule geschwänzt. Und er hat auf einer Entschuldigung deine Unterschrift gefälscht.«
Die Schrecken des Vortages waren Brynn inzwischen weniger präsent, und so konnte die Neuigkeit ihre bestürzende Wirkung entfalten. »Gefälscht?«
»Er war morgens nur kurz in der Schule. Dann ist er abgehauen und nicht zurückgekehrt.«
Stimmte das? Sie schaute zur Decke. In der Ecke war ein schwarzer Punkt, ein Einschussloch, klein wie eine Fliege. Das Projektil hatte offenbar die Wand durchschlagen. »Das hätte ich nie
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