Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
ich gemerkt. Ich kenne mich mit so was von Berufs wegen aus, weißt du noch?«
Er ist kein guter Lügner.
Im Gegensatz zu mir.
Er war nun wütend. Doch was noch schlimmer war, er klang entrüstet. »Was hast du gemacht? Mein Auto verwanzt? Mich von deinen Kollegen verfolgen lassen?«
»Ich habe dich einmal mit ihr gesehen. Ganz zufällig. Vor dem Motel an der Albemarle Avenue. Und ja, später bin ich dir
gefolgt. Du hast gesagt, du würdest Karten spielen gehen. Aber stattdessen warst du wieder bei ihr …«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Wieso lachst du?«, fuhr sie ihn an. »Du hast mir das Herz gebrochen, Graham!«
»Um jemandem das Herz zu brechen, muss man wenigstens ein kleines Stück davon besitzen. Und das ist nicht der Fall. Kein Gramm deines Herzens gehört mir. Und das hat es auch nie, glaube ich.«
»Das stimmt nicht! Es gibt keine Entschuldigung dafür, mich zu betrügen.«
Er nickte langsam. »Betrügen, aha … Hast du mich je danach gefragt? Hast du dich je hingesetzt und gesagt: ›Liebling, wir haben ein Problem, ich mache mir Sorgen, lass uns darüber reden und eine Lösung finden?‹«
»Ich …«
»Weißt du, deine Mutter hat mir erzählt, was Keith getan hat. Mit deinem Gesicht, meine ich. Und weißt du, was ich im ersten Moment gedacht habe? ›O mein Gott, das erklärt so viel. Wie konnte ich nur wütend auf sie sein?‹ Doch dann wurde mir klar, dass ja, zum Teufel, ich durchaus wütend sein konnte. Ich sollte sogar wütend sein. Und du hättest es mir erzählen müssen. Das warst du mir schuldig.«
Brynn hatte hundertmal mit dem Gedanken gespielt, sich ihm anzuvertrauen. Und trotzdem hatte sie irgendeine Lügengeschichte über einen Autounfall erfunden. Doch was sollte ich ihm erzählen?, dachte sie nun. Dass jemand in Wut geraten ist und mich geschlagen hat? Dass ich danach monatelang immer wieder geheult habe? Dass ich beim Klang seiner Stimme zusammengezuckt bin? Dass ich mich hilflos wie ein kleines Kind gefühlt habe? Dass ich mich dafür geschämt habe, ihn nicht längst verlassen zu haben? Dass ich nicht einfach Joey genommen habe und gegangen bin?
Dass ich Angst hatte? Dass ich schwach war?
Und dass mein Zögern nur zu noch schlimmeren Konsequenzen geführt hat?
Keith …
Doch sogar jetzt konnte sie Graham nicht offen sagen, was passiert war.
Und das, begriff sie, war der Schlüssel zu dem Frevel, den sie an Graham - nein, an ihnen beiden - begangen hatte: ihr Schweigen, diese Unfähigkeit zu reden. Aber sie spürte, dass die Einsicht zu spät kam, sogar falls es ihr gelingen sollte, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es war, als würde man endlich den entscheidenden Beweis für die Identität eines Killers finden, nur um feststellen zu müssen, dass der Täter bereits an Altersschwäche gestorben war.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Dennoch hast du …« Ihre Stimme erstarb, denn Graham zog seine Brieftasche hervor und suchte etwas darin. Brynn sah ihm dabei zu und nestelte zwanghaft an ihrem Gesichtsverband herum.
Mein Gott. Wollte er ihr etwa ein Foto seiner Geliebten zeigen?
Er reichte ihr eine kleine weiße Karte.
Brynn kniff die Augen zusammen; die Wunde auf der rechten, sehstärkeren Seite erschwerte ihr das Lesen.
Sie starrte die geprägten Buchstaben an: Dr. Sandra Weinstein, 2942 Albemarle Avenue, Suite 302, Humboldt, Wisconsin. Darunter stand der handschriftliche Vermerk: Freitag, 17. April, 19.30 Uhr .
»Sie ist eine …«, setzte Brynn an.
»Therapeutin. Psychiaterin.«
»Du …«
»Du hast uns in der Nähe des Motels gesehen, Brynn, aber nicht in dem Motel. Ihre Praxis ist in dem Bürogebäude nebenan. Ich bin für gewöhnlich abends ihr letzter Patient. Manchmal verlassen wir das Gebäude gleichzeitig. Wahrscheinlich hast du uns bei einer solchen Gelegenheit gesehen.«
Brynn schnipste gegen die Karte.
»Ruf sie an. Geh zu ihr. Ich werde ihr erlauben, dir alles zu erzählen. Bitte, sprich mit ihr. Hilf mir herauszufinden, weshalb du deinen Job mehr liebst als mich. Warum du lieber in deinem Streifenwagen sitzt als zu Hause. Hilf mir zu begreifen, wie ich Vater eines Sohnes sein soll, an den du mich nicht heranlässt. Wieso du mich überhaupt geheiratet hast. Vielleicht könnt ihr beide aus alldem schlau werden. Ich jedenfalls kann es nicht.«
»Aber warum hast du denn nichts gesagt?«, fragte Brynn kleinlaut. »Wieso hast du mich nicht gebeten, gemeinsam mit dir eine Therapie zu machen? Ich hätte es getan!« Sie meinte es
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