Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
ernst.
Er senkte den Kopf. Und sie erkannte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte - so wie ihre Zunge, die an dem verletzten Zahnfleisch herumspielte.
»Das hätte ich tun sollen. Sandra legt es mir immer wieder nahe. Ein Dutzend Mal hätte ich dich beinahe gefragt. Ich konnte nicht.«
»Aber wieso?«
»Ich hatte Angst vor deiner Reaktion. Du hättest mich für zu fordernd halten und uns aufgeben können, einfach so. Oder du hättest die Kontrolle übernommen, und ich wäre dabei unter die Räder geraten … Und am Ende hätte es so ausgesehen, als gäbe es gar kein Problem.« Er zuckte die Achseln. »Ich hätte dich fragen sollen. Ich konnte nicht. Aber sieh mal, Brynn, die Zeit dafür ist vorbei. Du bist du, und ich bin ich. Wie Katze und Hund. Wir sind so verschieden. Es ist für uns beide am besten.«
»Aber es ist noch nicht zu spät. Mach nicht alles an letzter Nacht fest. Das war … das war ein Albtraum.«
Da überraschte er sie: Er verlor die Beherrschung. Er stieß den Stuhl zurück und sprang auf. Die Bierflasche kippte um und ergoss sich schäumend über die Teller. Der sonst so umgängliche Mann wurde richtig wütend. Brynn erstarrte innerlich und musste sofort an die Abende mit Keith denken. Sie
wusste, dass Graham ihr nichts tun würde, und griff sich dennoch unwillkürlich an den Kiefer. Sie schaute zu ihm auf und sah wieder den Wolf aus dem State Park vor sich.
Doch sie erkannte, dass Grahams Zorn sich nicht gegen sie richtete, sondern, so glaubte sie, allein gegen ihn selbst.
»Aber ich muss alles an letzter Nacht festmachen«, sagte er. »Das hat den Ausschlag gegeben, Brynn. Die letzte Nacht …«
Das hatte er zuvor schon gesagt: Erst seit letzter Nacht wisse er, dass er sie verlassen werde. Was genau meinte er? »Ich verstehe nicht.«
Er atmete tief ein. »Eric.«
»Eric Munce?«
»Er ist wegen mir gestorben.«
»Wegen dir? Nein, nein, wir wissen alle, wie leichtsinnig er war. Was auch immer geschehen ist, es hatte nicht das Geringste mit dir zu tun.«
»O doch! Es hatte sogar ausschließlich mit mir zu tun.«
»Wovon redest du da?«
»Ich habe ihn benutzt!« Nun zitterte sein markanter und ebenmäßiger Unterkiefer. »Ich weiß, dass ihr ihn alle für einen Cowboy gehalten habt. Letzte Nacht sollte niemand an der Interstate nach dir suchen. Doch ich wusste, dass das dein Ziel sein würde. Also habe ich zu Eric gesagt, wenn er etwas Action wolle, solle er mich begleiten. Denn die Killer seien dorthin unterwegs.« Graham schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm das wie einen Köder hingeworfen … Und deswegen ist er nun tot. Weil ich mich in etwas eingemischt habe, aus dem ich mich hätte heraushalten müssen. Und nun werde ich für immer damit leben müssen.«
Sie beugte sich vor. Er schreckte vor ihrer ausgestreckten Hand zurück. Brynn sah ihn an. »Aber warum, Graham? Warum bist du gekommen?«
Er lachte verbittert auf. »O Brynn. Ich verdiene mein Geld damit, Bäume und Blumen zu pflanzen. Du trägst eine Waffe
und lieferst dir Verfolgungsjagden. Ich möchte abends fernsehen; du willst lernen, wie man die neuesten Drogentests anwendet. Ich kann mit deinem Leben nicht mithalten. Ganz sicher nicht nach Joeys Meinung … Ich weiß nicht, was ich mir letzte Nacht, verdammt noch mal, gedacht habe. Vielleicht dass irgendwo tief in mir ein Revolverheld stecken würde. Dass ich mich beweisen könnte. Doch das war ein Witz. Ich habe lediglich bewirkt, dass ein anderer Mensch getötet wurde … Ich hatte da draußen wirklich nichts zu suchen. Und hier habe ich das ebenfalls nicht. Du willst mich nicht, Brynn. Und du brauchst mich auch nicht.«
»Nein, Liebling, nein …«
»Doch«, flüsterte er. Dann hob er eine Hand. Schluss jetzt, es reicht, sollte das heißen.
Er nahm ihren Arm und drückte ihn sanft. »Lass uns schlafen gehen.«
Graham ging nach oben. Brynn wischte geistesabwesend das verschüttete Bier zusammen, bis die Papierservietten sich in ihre Bestandteile auflösten. Sie holte ein Geschirrtuch und beendete das Vorhaben. Mit einem anderen versuchte sie, ihre Tränen zu trocknen.
Sie hörte seine Schritte wieder nach unten kommen. Er hatte ein Kissen und eine Decke bei sich. Ohne auch nur in ihre Richtung zu schauen, ging er zu der grünen Couch, richtete sich dort ein Lager und schloss die Wohnzimmertür.
84
»Fertig, Ma’am.«
Brynn schaute zu dem Maler hinüber, der in Richtung des
Wohnzimmers deutete, dessen Decke und Wände er ausgebessert hatte.
»Was
Weitere Kostenlose Bücher