Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Auseinandersetzungen mehr, keine Beschimpfungen. Er wurde ein Mustergatte.
Und neun Monate später bat sie ihn um die Scheidung, und er willigte zögernd ein.
Wieso hatte sie ihn darum gebeten?
Stunden-, tagelang stellte sie sich diese Frage. Lag es an den Nachwirkungen jenes furchtbaren Abends? Hatte Keith einen Wutausbruch zu viel gehabt? Oder war Brynn nicht in der Lage, ein ruhiges, normales Leben zu führen?
Ich würde das Dasein, das ich führe, um nichts in der Welt eintauschen wollen. Sehen Sie sich doch all die gewöhnlichen Leute an - diese wandelnden Toten. In denen steckt kein Funken Leben mehr, Brynn. Sie sitzen herum und regen sich über irgendwas auf, das sie im Fernsehen gesehen haben und das überhaupt keine Auswirkungen auf sie persönlich hat …
Nun dachte sie an den Abend zurück, an dem sie und Graham von Anna aus dem Krankenhaus zurückgekehrt waren. Was er zu ihr gesagt hatte.
O Graham, du hast recht. Du hast ja so recht. Aber ich bin meinem Sohn etwas schuldig. Sehr viel sogar. Ich habe ihn in eine Situation gebracht, in der er allen Ernstes zu einer Schusswaffe gegriffen hat, um seine Mutter zu retten. Dabei hätte ich ihn schon Jahre zuvor aus dieser Umgebung herausnehmen müssen.
Und kaum war alles besser, bin ich gegangen. Ich habe Joey von einem Vater getrennt, der Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um sich grundlegend zu ändern.
Was kann ich denn anderes tun, als den Jungen zu verwöhnen und zu beschützen? Und auf seine Vergebung zu hoffen?
Sie griff sich an den Kiefer und betrat die Veranda der Feldmans. Der Tatort war freigegeben worden, doch an der Tür hing immer noch ein gesicherter Schlüsselkasten der Staatspolizei. Brynn tippte die Kombination ein, entnahm den Schlüssel und ging ins Haus. Die feuchte Luft roch nach süßlichem Reinigungsmittel und dem erkalteten Kamin.
Brynn registrierte die Einschusslöcher - von Hart, von Lewis’ Schrotflinte, von Michelle, von Brynns eigener Waffe. Der Küchenboden war vollständig sauber, das Blut restlos verschwunden. Es gab Firmen, die darauf spezialisiert waren, die Schauplätze von Verbrechen und Unfalltoden zu reinigen. Brynn hatte immer gedacht, das wäre eine gute Idee für einen Kriminalroman: ein Killer, der für eine dieser Firmen arbeitet und nach begangenem Mord den Tatort so gründlich säubert, dass die Polizei keine Spuren finden kann.
In der Küche sah sie ein halbes Dutzend abgegriffener Kochbücher, von denen sie einige selbst besaß. Sie nahm ein altes Joy of Cooking aus dem Regal und schlug das Rezept auf, das durch das rote Lesebändchen markiert war. Hühnerfrikassee. Sie lachte. Sie hatte genau dieses Gericht selbst schon zubereitet. In einer Ecke stand mit Bleistift geschrieben: 2 Stunden . Und die Worte: Stattdessen Wermut .
Brynn stellte das Buch zurück.
Sie fragte sich, was nun aus dem Haus werden mochte.
Es würde jahrelang leer stehen, vermutete sie. Wer wollte sich hier oben auch aufhalten? Finsterer, dichter Wald, weder Lebensmittelläden noch Restaurants in der Nähe und dann dieser kalte, dunkle See wie ein großes schwarzes Loch.
Doch sie schob all diese Überlegungen beiseite, stieß sie von sich weg, so wie Michelle und sie das Kanu in den schwarzen Bach gestoßen und eilig die Flucht ergriffen hatten.
Nach einem Blick auf die Stelle, an der die Leichen der Feldmans - und beinahe auch ihre eigene - gelegen hatten, kehrte Brynn ins Wohnzimmer zurück.
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»Wir müssen los.«
»Okay«, sagte Joey zu seiner Mutter und kam die Treppe herunter. Er trug ein Trapper-Kostüm, das Anna angefertigt hatte. Mann, die Frau kann vielleicht mit einer Nähmaschine umgehen, dachte Brynn. Schon immer. Manchen Leuten liegt es eben einfach im Blut.
Während der letzten Tage war Brynn in Milwaukee und Kenosha einigen Spuren nachgegangen. Manche davon hatten sich als ergiebig erwiesen, andere nicht. Doch es war ihr wichtig gewesen, an jenem Abend rechtzeitig zu Joeys Schulaufführung wieder zu Hause zu sein.
»Mom, ist bei dir alles klar?«, rief Brynn.
»Alles bestens«, meldete Anna sich aus dem Wohnzimmer. »Joey, ich wünschte, ich könnte mitkommen. Doch ich komme zu eurer Abschlussfeier am Ende des Schuljahrs. Bis dahin geht es mir wieder gut. Wen spielst du?«
»Einen Scout aus der Grenzregion. Ich führe die Leute über die Berge.«
»Es geht aber nicht um den Donner-Treck, oder?«
»Was ist das?«, fragte Joey sich laut. »So was wie Star Trek?«
»Irgendwie
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