Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Mann und einer hübschen Rothaarigen Mitte zwanzig getroffen. Beide Besucher hätten kurze Haare gehabt; der Mann sei ziemlich unfreundlich gewesen, und die Frau habe dem anderen Phantombild geähnelt, das im Fernsehen gezeigt werde.
Das wurde ja immer besser …
»Die Sache ist die«, fügte die Frau hinzu. »Er hat nie ausgecheckt.«
»Er ist immer noch da?«
»Nein, Officer. Er hat das Zimmer für drei Tage gemietet, ist am Nachmittag des Siebzehnten weggegangen und dann nie zurückgekehrt. Ich wollte ihn anrufen, aber die Telefonauskunft hat für diesen Namen und diese Adresse keinen Eintrag vorliegen, weder in Minneapolis noch in St. Paul.«
Es überraschte Brynn nicht, als Jackson ihr einen Zettel zuschob, auf dem stand: Anschrift falsch. Ein Parkplatz. Name unbekannt in Minnesota, Wisconsin, NCIC und VICAP.
Sie nickte und flüsterte: »Gib Tom Bescheid; es tut sich was.«
Jackson verschwand. Brynn überflog ihre Notizen und blätterte mehrere Seiten um. »Hat er mit Kreditkarte gezahlt?«, fragte sie die Direktorin.
»Nein, bar. Aber ich rufe in erster Linie an, weil er einen Koffer hiergelassen hat. Falls Sie ihn haben wollen, können Sie ihn sich gern abholen.«
»Wirklich? Ich würde nur zu gern vorbeikommen und einen Blick darauf werfen, das dürfen Sie mir glauben. Lassen Sie mich ein paar Vorkehrungen treffen. Ich melde mich gleich wieder bei Ihnen.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, lehnte Brynn sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte Tom Dahl, der in diesem Moment hinzukam. Er sah ihr skeptisch in die Augen, die offenbar ein gewisses Funkeln aufwiesen.
»Mehr als das. Wir haben endlich eine konkrete Spur.«
91
Michelle Alison Kepler - inzwischen braunhaarig und ausgiebig mit Kosmetika behandelt - saß im Schlafzimmer eines feudalen
Hauses in einem feudalen Viertel von Milwaukee und trug dunklen, pflaumenfarbigen Nagellack auf, den gleichen, den sie in jener schrecklichen Aprilnacht getragen hatte.
Sie dachte über etwas nach, das ihr im Laufe der Jahre klar geworden war: Die Leute hörten, was sie hören wollten, sahen, was sie sehen wollten, und glaubten, was sie glauben wollten. Doch um diese Schwäche auszunutzen, musste man raffiniert sein; man musste die Wünsche und Erwartungen der Menschen erkennen und ihnen dann subtil und geschickt ausreichend Brosamen zu kauen geben, damit sie zufrieden waren. Das war schwierig. Aber für jemanden wie Michelle war es überlebenswichtig.
Sie dachte dabei insbesondere an ihre Begleiterin in jener Nacht: Deputy Brynn McKenzie.
Sie sind die Freundin der beiden … Aus Chicago? … Ich habe gehört, Sie und Emma seien früher mal Arbeitskolleginnen gewesen … Sind Sie ebenfalls Anwältin?
Mein Gott, was warst du unbedarft, Brynn.
Michelle hatte sich dort bei dem Haus in einer schwierigen Situation befunden. Das Ehepaar war tot. Sie hatte die gesuchten Akten gefunden und vernichtet, was bedeutete, dass sie Hart und Lewis nicht mehr benötigte. Doch dann hatte Hart flink wie eine Katze reagiert … und der Abend ging zum Teufel.
Die Flucht in den Wald …
Und dann stieß sie auf Deputy Brynn McKenzie. Sie wusste instinktiv, welche Rolle sie spielen musste, eine Rolle, die dieses Landei verstehen konnte: das reiche, verwöhnte Mädchen, nicht besonders sympathisch, aber mit genau dem richtigen Maß an Selbstzweifeln; eine Frau, die von ihrem Mann aus Langeweile abgeschoben worden war, obwohl er sie immer ermutigt hatte, so zu sein.
Brynn würde anfangs verärgert sein, sich dann aber mitfühlend verhalten, weil wir nun mal meistens so reagieren, wenn
wir jemanden unter schwierigen Umständen kennenlernen. Niemand mag Opfer - bis sie ihm ein wenig vertrauter sind und er etwas von ihnen in sich selbst wiedererkennt.
Außerdem würde Brynn sich auf diese Weise nicht ständig fragen, wieso Michelle nicht vor Kummer über die Ermordung ihrer Freunde zerfloss - Morde, die sie gerade erst selbst begangen hatte.
Als ich sagte, ich sei Schauspielerin, war das nicht gelogen, Brynn. Ich trete lediglich nicht auf einer Bühne oder vor einer Kamera auf.
Nun jedoch war es drei Wochen später. Und die Dinge liefen allmählich wieder rund. Das war aber auch höchste Zeit. Nach all dem haarsträubenden, unfairen Mist, der am 17. April und danach über sie hereingebrochen war, hatte sie sich eine Wendung zum Besseren verdient.
Sie steckte sich Wattebäusche zwischen die Zehen ihres linken Fußes und lackierte auch dort die Nägel.
Ja, Gott
Weitere Kostenlose Bücher