Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
schon.«
»Mutter«, schimpfte Brynn.
Anna humpelte zur Zimmertür. »Dreh dich mal um … Mensch, sieh sich das einer an. Du siehst aus wie Alan Ladd.«
»Wie wer?«
»Ein berühmter Schauspieler.«
»Wie Johnny Depp?«, fragte der Junge.
»Himmel, hilf!«
Joey rümpfte die Nase. »Ich will aber keine Schminke ins Gesicht. Die ist so schmierig.«
»Auf der Bühne geht es nicht ohne«, sagte Brynn. »Damit die Leute dich besser erkennen können. Außerdem siehst du damit so stattlich aus.«
Er seufzte übertrieben laut.
»Schatz«, sagte Anna, »ich glaube, Graham würde auch gern kommen.«
»Ja«, rief der Junge sofort. »Mom, darf er?«
»Ich weiß nicht«, sagte Brynn unschlüssig. Sie ärgerte sich, dass ihre Mutter - mit voller Absicht, wie es schien - diesen Punkt in Joeys Anwesenheit zur Sprache brachte.
Anna hielt Brynns Blick stand und verzog den Mund zu diesem unerschütterlichen Lächeln, das sie sich hätte patentieren lassen sollen. »Ach, ruf ihn doch an. Was kann es schaden?«
Brynn wusste darauf keine Antwort. Und genau deshalb wollte sie ihn auch nicht anrufen.
»Es wird ihm bestimmt gefallen, Mom. Na los.«
»Das ist ziemlich kurzfristig.«
»In dem Fall wird er sagen, dass er schon was vorhat, aber vielen Dank für die Einladung. Oder er sagt Ja.«
Sie wandte den Kopf. Anna hatte ihr nach der Trennung
beigestanden, aber keine eigene Meinung dazu geäußert. Brynn war davon ausgegangen, dass ihre Mutter sich aus der Sache heraushalten wollte. Doch nun fragte sie sich, ob sich hinter dem freundlichen Lächeln - das an die gütige Oma in einer Fernsehwerbung erinnerte - womöglich eine sorgfältig geplante Strategie für das Leben der Tochter verbarg.
»Es wäre mir nicht so recht«, sagte Brynn ruhig.
»Ah.« Das Lächeln fror ein.
»Mom«, sagte Joey. Er war wütend.
Der Blick ihrer Mutter richtete sich für den Bruchteil einer Sekunde auf den Enkel. Doch sie sagte nichts mehr.
»Ich weiß nicht, warum er schon wieder umgezogen ist«, murmelte Joey. »Bis hinüber nach Hendricks Hills.«
»Woher weißt du, wo er jetzt wohnt?« Graham war erst am Vortag in ein anderes gemietetes Haus gezogen.
»Er hat es mir erzählt.«
»Du hast mit ihm gesprochen?«
»Er hat angerufen.«
»Davon hast du mir gar nichts gesagt.«
»Er hat ja auch mich angerufen«, erwiderte der Junge trotzig. »Um Hallo zu sagen, du weißt schon.«
Brynn war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. »Und er hat keine Nachricht hinterlassen?«
»Nein.« Er zupfte an seinem Kostüm herum. »Wieso ist er dorthin gezogen?«
»Es ist eine hübsche Gegend.«
»Ich meine, wieso ist er überhaupt bei uns ausgezogen?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Wir hatten unterschiedliche Ansichten.«
Joey wusste nicht, was das bedeutete, aber Brynn wusste es ebenfalls nicht. »Und kann er nicht doch zu der Aufführung kommen?«
»Nein, mein Schatz.« Sie lächelte. »Heute nicht. Eventuell ein anderes Mal.«
Der Junge ging zum Fenster und sah hinaus. Er wirkte enttäuscht. Brynn runzelte die Stirn. »Was ist denn?«
»Ich dachte, er ist vielleicht da.«
»Wieso?«
»Er kommt manchmal vorbei, du weißt schon.«
»Wirklich? Um mit dir zu reden?«
»Nein. Er sitzt einfach eine Weile draußen in seinem Wagen und fährt dann wieder weg. Bei der Schule hab ich ihn auch gesehen. Er stand nach dem Unterricht draußen geparkt.«
»Bist du sicher, dass es Graham gewesen ist?«, fragte Brynn mit möglichst ruhiger Stimme.
»Ja, klar. Ich meine, ich konnte ihn nicht so gut erkennen, und er hatte eine Sonnenbrille auf. Aber es muss Graham gewesen sein. Wer denn sonst?«
Brynn schaute zu ihrer Mutter, die sichtlich überrascht war. »Doch es könnte auch jemand anders gewesen sein. Du bist dir nicht hundertprozentig sicher.«
Joey zuckte die Achseln. »Er hatte dunkles Haar. Und er war groß, so wie Graham.«
»In was für einem Auto hat er gesessen?«
»Keine Ahnung. Irgendwas Blaues. Sah cool aus. Wie ein Sportwagen. Dunkelblau. Genauer weiß ich es nicht. Als er angerufen hat, hat er erzählt, dass sein Pickup nicht gefunden wurde und er sich ein neues Auto besorgen musste. Ich dachte, das wäre es. Was ist denn los, Mom?«
»Nichts.« Sie lächelte.
»Komm schon. Kannst du ihn nicht anrufen?«
»Nicht heute, mein Schatz. Ich werde später mit ihm sprechen.« Brynn musterte die leere Straße. Dann drehte sie sich um und setzte das stoische Lächeln ihrer Mutter auf. »He, Mom, dir geht es ja
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