Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
Rolfe. »Der Zustand meiner Tante hat sich verschlechtert.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Gott, die arme Frau. Es tut mir so leid, was sie alles durchmachen muss.«
»Mir auch, Häschen«, sagte er beim Anblick ihres gepeinigten Gesichts.
Der Kosename ließ Michelle vor Abscheu zusammenzucken. »Ich muss zu ihr«, sagte sie.
»Selbstverständlich …« Er runzelte die Stirn. »Wie heißt sie doch gleich?«
Sie sah ihn kühl an. Was bedeutete: Willst du mir hier irgendwas unterstellen, oder hast du meine Verwandten vergessen? Du kannst nur verlieren.
»Verzeih«, sagte er sofort, offenbar als Reaktion auf ihre Miene. »Haddie, richtig? Das ist ihr Name. He, ich fahre dich.«
Michelle lächelte. »Schon in Ordnung. Ich möchte lieber
allein mit Brad hin. Wir sind ihre Familie, das verstehst du doch, oder?«
»Aber natürlich. Meinst du denn, dass Brad sie in dieser Verfassung sehen sollte?«
Sie schaute den Jungen an. »Du möchtest dein Tantchen doch gern besuchen, nicht wahr?« Wehe, wenn er jetzt antwortete, dass er überhaupt kein Tantchen hatte. Sie sah ihm tief in die Augen, nahm die Limonade aus seiner winzigen Hand und trank einen Schluck.
Er nickte.
»Das dachte ich mir. Gut.«
91
Brynn McKenzie nahm ihren Rucksack und leerte die zweite Tasse Kakao an jenem Tag.
Sie musste wieder an Graham und ihre erste Verabredung denken. Dann an das letzte Mal, als sie ohne Joey ausgegangen waren - sie hatten in einem schlichten Club an der Route 32 bis Mitternacht getanzt. Eine Woche später hatte sie herausgefunden, dass er sie »betrog«.
Wieso hast du mich nicht gebeten, gemeinsam mit dir eine Therapie zu machen? …
Warum hatte er sie nicht wenigstens zu einer seiner Sitzungen mitgenommen?
»Hallo, B«, riss die Stimme einer Frau sie aus ihren Gedanken. »Kommst du nachher ins Bennigan’s?« Es war Jane Styles, eine der Senior Deputys. »Ich treffe mich da mit Reggie. Oh, und dieser niedliche Typ kommt auch. Der, von dem ich dir erzählt habe.«
»Ich bin nicht geschieden, Jane«, flüsterte Brynn.
Die Worte »noch nicht« hingen unausgesprochen im Raum.
»Ich hab bloß gesagt, dass er niedlich ist. Nur zur Information. Ich habe nicht vor, das Aufgebot zu bestellen.«
»Er ist Versicherungsvertreter.«
»Wir brauchen Versicherungen. Daran ist doch nichts auszusetzen.«
»Danke, aber ich hab schon was vor. Schließ eine Police für mich ab.«
»Wie witzig.«
Brynn dachte an Hart und das Harborside Inn in Milwaukee und betrat den Korridor, den sie schon so oft entlanggegangen war, dass sie ihn gar nicht mehr richtig wahrnahm. An den Wänden hingen Fotos der Deputys, die im Dienst ihr Leben verloren hatten. Es gab vier aus den letzten siebenundachtzig Jahren. Das Porträt von Eric Munce würde demnächst hinzukommen. Der Bezirk hatte den Fotos teure Rahmen spendiert. Der erste Tote war ein Deputy mit buschigem Schnurrbart. Er war von einem Mann erschossen worden, der in Northfield, Minnesota, bei einem Zugüberfall mitgemacht hatte.
Sie kam außerdem an einer großen Landkarte des Bezirks vorbei. Brynn blieb stehen und musterte den kleinen blauen Fleck des Lake Mondac. Ist das, was ich jetzt vorhabe, eine gute oder eine schlechte Idee?, grübelte sie.
Dann lachte sie auf. Was soll die Frage? Ich hab mich doch sowieso schon entschieden.
Sie zog den Wagenschlüssel aus der Tasche und trat hinaus in den schönen klaren Nachmittag.
Stimmt es, dass er ein Mörder ist?
Wir gehen davon aus.
93
Michelle Kepler fuhr durch ein heruntergekommenes Viertel von Milwaukee auf den Lake Michigan zu. »Du machst Folgendes«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Du gehst zu dieser Frau und sagst, du hättest dich verlaufen. Sie wird in ihrem Wagen sitzen, und wenn sie aussteigt, gehst du zu ihr und sagst: ›Ich hab mich verlaufen.‹ Sag es.«
»Ich hab mich verlaufen.«
»Gut. Ich werde dir zeigen, welche Frau ich meine. Und achte darauf, dass du, du weißt schon, verängstigt wirkst. Kriegst du das hin? Weißt du, wie man ängstlich aussieht?«
»Ja«, sagte Brad.
»Behaupte nicht, du weißt etwas, wenn du es in Wahrheit doch nicht weißt«, herrschte sie ihn an. »Also, weißt du, wie man ängstlich aussieht?«
»Nein.«
»Stell dir vor, du hättest etwas falsch gemacht und mich damit enttäuscht. Verstanden?«
Er nickte hastig. Das kannte er.
»Gut.« Sie lächelte.
In der Innenstadt von Milwaukee fuhr Michelle am Harborside Inn vorbei und einmal um den Block. Sie kehrte zu dem Hotel zurück. Der
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