Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
scheiden?«
Sie schwieg eine Weile. »Nein«, sagte sie dann. »Er weiß nicht, dass ich es herausgefunden habe.«
Dann bedauerte sie, überhaupt etwas gesagt zu haben. Das ist doch absurd, dachte Brynn. Halt einfach den Mund, und geh weiter. Aber sie wollte die Geschichte erzählen. Unbedingt. Was merkwürdig war, weil sie noch niemandem davon erzählt hatte. Nicht ihrer Mutter, nicht ihrer besten Freundin Katie von der Feuerwehr und auch nicht Kim von der Eltern-Lehrer-Vereinigung.
Wahrscheinlich konnte sie nur hier, unter diesen extremen Bedingungen und in Gegenwart einer völlig Fremden, über das sprechen, was sie schon seit Monaten quälte. Ein Teil von ihr hoffte, Michelle würde mit ein paar Worten ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen; dann wäre das Thema erledigt und sie würden sich wieder der Beendigung ihrer Wanderschaft widmen können. Doch die junge Frau reagierte mit aufrichtigem Interesse. »Bitte erzählen Sie mir davon. Was ist passiert?«
Brynn ordnete ihre Gedanken. Schließlich sagte sie: »Ich war mit einem Staatspolizisten verheiratet. Keith Marshall.« Sie schaute zu Michelle, um zu sehen, ob ihr der Name bekannt vorkam.
Das schien nicht der Fall zu sein. »Wir haben uns bei einem Fortbildungskurs der Staatspolizei in Madison kennengelernt«, fuhr Brynn fort. Sie wusste noch, wie ihr der große, breitschultrige Mann aufgefallen war, der am Pult im Unterrichtsraum stand.
Keith hatte sie eine Weile gemustert, was darauf hindeutete, dass ihm ihr Aussehen gefiel, aber sein wirkliches Interesse erregte sie erst, als sie eine nachgestellte Geiselnahme durch Verhandlungen beendete, die der leitende Psychologe als erstklassig bewertete. Den Ausschlag gab letztlich wohl das Zerlegen und Zusammensetzen der Glock auf Zeit. Als Brynn den Schlitten arretierte und das Magazin einschob, war der Zweitschnellste noch immer damit beschäftigt, den Verschluss wieder in den Rahmen einrasten zu lassen.
»Wie romantisch«, warf Michelle ein.
Das hatte Brynn damals auch gedacht.
Nach dem Seminar hatten sie gemeinsam einen Kaffee getrunken und sich über die Polizeiarbeit in Kleinstädten unterhalten - und über das Miteinander-Ausgehen in Kleinstädten. Keith zuckte auf einmal zusammen, und sie erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Er erklärte, er sei gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden; er hatte bei einer echten Geiselnahme eine Schussverletzung erlitten. Zum Glück war dennoch alles gut ausgegangen - nur nicht für die Geiselnehmer.
»Die Jungs haben es nicht ganz geschafft.«
Oh, etwa diese Sache?, hatte sie gedacht und sich den fehlgeschlagenen Banküberfall ins Gedächtnis gerufen. Zwei bewaffnete Blinzler - Meth-Süchtige - in einer Filiale der Piny Grove Savings, mitsamt Kunden und Angestellten. Die Fensterscheiben waren zu dick für einen sicheren Präzisionsschuss, also war
Keith einfach um die Absperrung herum und mit der Waffe in der Hand zur Vordertür hineingegangen. Er hatte sich nicht mal geduckt, um ein kleineres Ziel zu bieten, sondern dem ersten Täter kurzerhand in den Kopf geschossen, einen Treffer in die Seite und einen in die Weste von dem anderen Kerl kassiert und diesen dann ebenfalls getötet, mitten durch das Holz des Verkaufsstandes, hinter dem der Mann sich verstecken wollte.
Die Jungs haben es nicht ganz geschafft.
Keith hatte sich schnell von der leichten Verletzung erholt. Seine Bruce-Willis-/Clint-Eastwood-Methode brachte ihm zwar eine unvermeidbare Rüge ein, aber niemand nahm ihm den Ungehorsam wirklich übel, und die Medien waren natürlich hellauf begeistert.
Brynn brachte ihn dazu, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Sie war fasziniert. Zu fasziniert, erkannte sie später. Der harte, stille Mann hatte mit fliegenden Fahnen ihr Herz erobert.
Ihre erste Verabredung bestand aus einem Horrorfilm, mexikanischem Essen und ausgiebigen Diskussionen über Kaliber, Schutzwesten und Autoverfolgungsjagden.
Elf Monate später wurden sie getraut.
»Sie haben also einen Cowboy geheiratet?«
Brynn nickte.
Michelle verzog das Gesicht. »Ich habe meinen Vater geheiratet, sagt meine Therapeutin … Wie dem auch sei, was ist dann geschehen?«
Tja, was ist geschehen?, dachte Brynn.
Es gelang ihr, sich nicht über den verformten Unterkiefer zu streichen, aber die heftige Erinnerung konnte sie nicht abwenden: Keith, dessen Miene im Bruchteil einer Sekunde nicht mehr Raserei, sondern Entsetzen widerspiegelte, als er durch die Wucht des Einschlags
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