Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
durch die Finsternis.
»Michelle!«
Dann, als sie nur noch drei Meter entfernt war, schien auch Michelle ihren Irrtum zu erkennen. Sie hielt keuchend inne und starrte den Baumstamm an. Dann fiel sie auf die Knie und schlug schluchzend die Hände vor das Gesicht. Ein schauriger Klagelaut entrang sich ihrer Kehle, leidend und hoffnungslos zugleich.
Der Schrecken der vergangenen Stunden bahnte sich endlich einen Weg; die Tränen bisher waren Tränen der Verwirrung und des Schmerzes gewesen. Dies hier war ein Ausbruch reinen Kummers.
Brynn ging zu ihr. »Michelle, es ist alles in Ordnung. Lassen Sie uns …«
Michelles Stimme erhob sich abermals zu lautem Wehgeschrei. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Bitte. Psst, Michelle. Bitte seien Sie still … Es ist okay.«
»Nein, es ist nicht okay! Es ist überhaupt nicht okay.«
»Lassen Sie uns aufbrechen. Es ist nicht mehr weit.«
»Das ist mir egal. Gehen Sie allein …«
Ein mattes Lächeln. »Ich lasse Sie nicht im Stich.«
Michelle verschränkte die Arme vor der Brust und wiegte sich vor und zurück.
Brynn hockte sich neben sie. Sie erkannte, dass in der jungen Frau noch etwas anderes vorging. »Was ist los?«
Michelle musterte geistesabwesend das Messer und schob es zurück in die Sockenscheide. »Ich muss Ihnen etwas sagen.«
»Was denn?«, ermunterte Brynn sie.
»Es ist meine Schuld, dass Steve und Emma tot sind«, flüsterte sie verzweifelt. »Es ist meine Schuld!«
»Ihre, wieso?«
»Weil ich eine verzogene Göre bin«, entgegnete sie schroff. »O mein Gott …«
Brynn schaute sich um. Nur noch ein paar Minuten. Das hier war wichtig, das spürte sie. Sie konnten sich ein paar Minuten erlauben. Die Männer waren meilenweit weg. »Erzählen Sie es mir.«
»Mein Mann …« Sie räusperte sich. »Mein Mann hat eine andere.«
»Wie bitte?«
Sie lächelte gequält. »Er betrügt mich«, brachte sie mühsam über die Lippen. »Ich habe gesagt, er sei auf Geschäftsreise. Das ist er auch, aber nicht allein.«
»Das tut mir leid.«
»Eine Freundin von mir arbeitet für das Reisebüro, bei dem seine Firma die Tickets bucht. Sie hat es mir verraten. Er ist in Begleitung unterwegs.«
»Vielleicht ist es bloß eine Kollegin.«
»Nein, ist es nicht. Und die beiden teilen sich ein Hotelzimmer.«
Oh.
»Ich war so wütend und verletzt. Ich konnte an diesem Wochenende nicht allein sein! Es ging einfach nicht. Ich habe Emma und Steve dazu überredet, mit mir herzufahren. Ich wollte mich an ihren Schultern ausheulen. Ich wollte, dass sie mir versichern, dass es nicht an mir liegt. Dass er ein Mistkerl ist, dass sie nach der Scheidung meine Freunde bleiben und ihn fallen lassen würden … Und jetzt sind sie tot, weil ich mich nicht wie eine Erwachsene benehmen konnte.«
»Das ist wirklich nicht Ihre Schuld.« Brynn wandte den Kopf und konnte keine Verfolger entdecken. Und auch keine Spur
von ihrem Maskottchen, dem Wolf. Sie legte der jungen Frau einen Arm um die Schultern und half ihr auf die Beine. »Kommen Sie, wir reden unterwegs weiter.«
Michelle fügte sich. Sie holten ihren provisorischen Gehstock zurück und setzten den Weg zum Fluss fort.
»Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Sechs Jahre.« Ihre Stimme stockte. »Michael war wie mein bester Freund. Alles sah so toll aus. Er war so gelassen, so großzügig. Er hat sich wirklich um mich bemüht … Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Das ist der Grund, aus dem ich ihn verloren habe - weil ich mich wie ein verwöhntes Kleinkind aufgeführt habe.« Sie lachte humorlos auf. »Er ist ein Banker. Er verdient viel Geld. Nach unserer Heirat habe ich aufgehört zu arbeiten. Nicht etwa, weil er mich dazu gedrängt hätte oder so. Es war meine eigene Idee. Ich hatte auf einmal die Möglichkeit, zur Schauspielschule zu gehen.«
Michelle zuckte zusammen. Sie war anscheinend zu fest aufgetreten und hatte von ihrem Knöchel sofort die Quittung dafür erhalten. »Ich habe Ihnen doch erzählt, ich wäre eine Schauspielerin«, fuhr sie fort. »Das ist alles Quatsch. Ich bin eine neunundzwanzigjährige Schauspiel schülerin . Und keine besonders gute. Ich war Komparsin bei zwei regionalen Werbespots. Second City hat mich abgelehnt. Mein Leben besteht daraus, mit meinen Freundinnen zu Mittag zu essen, Tennis zu spielen und ins Fitnesscenter oder zur Kosmetikerin zu gehen. Das Einzige, was ich gut kann, ist Geld ausgeben, einkaufen gehen und mich in Form halten.«
Was ihr immerhin eine grazile Kleidergröße 36
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