Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
zurücktaumelte und sich an die Brust griff, während sich von Brynns Dienstwaffe in der hell erleuchteten Küche ein beißender Korditgeruch ausbreitete.
»Brynn?«, hakte Michelle leise nach. »Was ist passiert?«
»Es hat einfach nicht funktioniert«, flüsterte sie schließlich. »Also war ich wieder allein. Ich hatte Joey und meinen Job - meine Mutter hat damals bei uns gewohnt und stand immer als Babysitterin zur Verfügung. Ich liebte meine Arbeit. Und ich hatte nicht vor, je wieder zu heiraten. Doch vor ein paar Jahren ist mir Graham begegnet, als ich in seiner Gärtnerei einige Pflanzen gekauft habe. Sie sind kaum gewachsen, und ich wollte welche hinzukaufen. Er hat mir erklärt, was ich falsch gemacht hatte, und mich dann um eine Verabredung gebeten. Ich war einverstanden. Er war witzig und nett. Er wollte Kinder, aber seine Exfrau nicht. Wir sind eine Weile miteinander ausgegangen. Und ich habe mich dabei wirklich wohlgefühlt. Dann hat er mir einen Antrag gemacht, und ich habe Ja gesagt.«
»Das klingt nach einem beschaulichen Leben.«
»Oh, das war es. Wir haben uns nie gestritten. Waren jeden Abend zu Hause.«
»Aber …?«
Nun fasste sie sich doch an den Kiefer. Sie ließ die Hand sinken.
Brynn verzog das Gesicht. »Nach einiger Zeit habe ich plötzlich immer mehr gearbeitet, Überstunden gemacht und schwierige Fälle übernommen, vor allem wenn es um häusliche Gewalt ging. Und den Rest meiner Zeit habe ich mit Joey verbracht … Er hatte Schwierigkeiten in der Schule. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal davon gehört haben, aber das kommt bei Kindern von Polizisten oft vor.«
Michelle schüttelte den Kopf.
»Statistisch gesehen werden sie häufiger verhaltensauffällig und bekommen psychische Probleme. Joey wird immerzu in Raufereien verwickelt. Und er kann ziemlich leichtsinnig sein - vor allem auf seinem Skateboard. Ich hatte also mit meinem Job und mit Joey zu tun, und auf einmal fing Graham an, regelmäßig zum Pokern zu gehen.«
»Aber das waren keine echten Pokerrunden.«
»Manchmal schon. Doch manchmal blieb er nicht den ganzen Abend dort. Und manchmal fuhr er gar nicht erst hin.«
Sie verschwieg Michelle, dass sie bei Tom Dahls Anruf und der Bitte, zum Lake Mondac zu fahren, als Erstes gedacht hatte: Wenn ich den Auftrag übernehme, kann Graham heute Abend nicht weg und sich mit ihr treffen.
Später dann war er nicht ans Telefon gegangen, als sie ihn vom Wagen aus angerufen hatte. War er also trotzdem gefahren?
»Sind Sie sicher?«, fragte Michelle.
»Oh, es gab eine Augenzeugin. Sie hat die beiden zusammen gesehen.«
»Ist die Frau vertrauenswürdig?«
»Eigentlich schon. Ich war es selbst.« Brynn sah es wieder vor sich. Außerhalb von Humboldt. Sie fuhr am Steuer eines zivilen Einsatzfahrzeugs zu einer Besprechung über ein bestimmtes Meth-Labor. Vor dem Albemarle-Motel sah sie Graham neben einer großen Blondine stehen. Die Frau nickte lächelnd. Brynn fand, sie sah nett aus. Er hatte den Kopf gesenkt und redete mit ihr, dort vor dem Motel, obwohl er Brynn erzählt hatte, er würde dreißig Kilometer entfernt in Lancaster arbeiten. Beim Essen an jenem Abend sah er ihr ins Gesicht und schilderte ihr die Fahrt zu dem idyllischen Urlaubsort und wie der Auftrag gewesen sei - dabei überhäufte er sie mit viel zu vielen Einzelheiten, wie die meisten Lügner. Brynn kannte sich damit aus; sie hatte schon jede Menge Verkehrskontrollen durchgeführt.
Beim Anblick der beiden vor dem Motel hatte sie sich gefragt: Sind sie schon auf dem Zimmer gewesen oder werden sie erst noch hinaufgehen?
»Was haben Sie zu ihm gesagt?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ich weiß nicht genau, warum. Vor allem wegen Joey, schätze
ich. Erst die Trennung von Keith und nun noch eine Scheidung? Das konnte ich ihm nicht antun. Und Graham ist wirklich ein guter Mensch.«
»Abgesehen vom Fremdgehen«, stellte Michelle freudlos fest.
Brynn lächelte matt. Und wiederholte ihr früheres Argument. »Er ist nicht allein daran schuld. Ehrlich … Als Deputy bin ich ganz gut. Was diesen Familienkram angeht, eher weniger.«
»Ich bin der Meinung, die Leute sollten nicht bloß eine Blutuntersuchung machen lassen, bevor sie heiraten. Es müsste eine zweitägige Prüfung geben. So wie bei der Zulassung als Anwalt.«
Brynn kam sich wie in einem Film vor, einer Komödie, in der zwei als Kinder getrennte Schwestern wieder vereint werden; die eine ist ein exklusives Leben in der großen Stadt gewohnt, die andere ist
Weitere Kostenlose Bücher