Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
auf der kleinen, von ihm selbst gebauten Terrasse und starrte den Halbmond an.
Er zog sein Telefon aus der Tasche und wollte den Versuch unternehmen, Brynn zu erreichen.
Doch dann hielt er inne. Was war, falls wieder dieser Mann an den Apparat ging? Graham wusste, er würde sich nicht beherrschen können. Falls er verriet, dass sie Verdacht geschöpft und die Polizei losgeschickt hatten, könnte der Mann Brynn etwas antun und fliehen. Also steckte Graham das Telefon wieder ein und schüttete das Bier hinter der Terrasse bei der Topfazalee in den Mulch.
Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, stellte er überrascht fest, dass Joey im Schlafanzug nach unten gekommen war. Er lag zusammengerollt auf der Couch und hatte seiner Großmutter den Kopf auf den Schoß gelegt.
Anna sang ihm leise ein Lied vor.
Graham und seine Schwiegermutter sahen einander an. Er zeigte auf sich selbst und dann auf die Tür.
»Willst du das wirklich tun, Graham?«, fragte sie ihn.
Nein, dachte er. Nickte aber.
»Ich werde hier die Stellung halten. Sei vorsichtig. Bitte sei vorsichtig.«
Er hatte den leistungsstarken Motor angelassen und war mit durchdrehenden Reifen und aufspritzendem Schotter aus der Auffahrt gerast.
Nun nahm er abermals sein Telefon und fing an, eine Nummer einzugeben - die von Sandra, die natürlich nicht auf einer Kurzwahltaste gespeichert war. Doch er zögerte und ließ das Gerät schließlich wieder in die Tasche gleiten. Er würde sie nicht anrufen; es war schon spät, und er hatte vorhin bereits mit ihr gesprochen - nur ganz kurz, als Anna im Badezimmer gewesen war -, um ihr mitzuteilen, dass er heute Abend nicht vorbeikommen konnte. Selbst wenn sie nun ans Telefon ging, was vermutlich sowieso nicht passieren würde, was sollte er ihr sagen?
Er war sich nicht sicher.
Außerdem war es besser, er konzentrierte sich auf die Straße. Er fuhr jetzt hundertzehn, obwohl nur sechzig erlaubt waren, und würde sich von keiner Polizeistreife aufhalten lassen.
Was genau er tun wollte, wenn er am Lake Mondac eintraf, wusste er nicht.
Und warum er dies tat, war ihm sogar ein noch größeres Rätsel.
Er für seinen Teil sehnte sich danach, am Ende des Tages erschöpft im Bett zu liegen, seiner Frau den Arm um den Leib zu legen und sein Gesicht an ihrer Schulter zu vergraben. Dann wollte er sich mit ihr über ihrer beider Arbeitstage unterhalten, über die Dinnerparty am nächsten Freitag, die Zahnklammer und das Schulzeugnis ihres Kindes oder ein Refinanzierungsangebot für die Hypothek, bis sie beide nacheinander einschliefen. Doch das war ihm anscheinend nicht vergönnt. Würde es das je sein? Und wann? Morgen? Nächstes Jahr?
Ohne Rücksicht auf das Tempolimit beschleunigte er den kantigen Pickup auf hundertdreißig, während die entführten Azaleen auf der Ladefläche zitterten.
41
»Da!«, flüsterte Brynn aufgeregt. »Sehen Sie das?«
»Was?« Michelle folgte Brynns ausgestrecktem Arm. Sie kauerten hinter einem noch kahlen Hartriegelstrauch. Der Boden war von einer dicken, intensiv duftenden Schicht modernden Laubes bedeckt, aus der überall Krokusse sprossen.
In der Ferne funkelte ein schmales Band.
»Der Snake River.« Ihre Rettungsleine.
Sie gingen fünf Minuten weiter, ohne das Wasser noch mal
zu Gesicht zu bekommen. Brynn ließ den Blick in die Runde schweifen, um sich zu orientieren und die Richtung zu überprüfen. Sie erstarrte.
»O Gott.« Sie hockte sich hin. Ihr Magen zog sich vor Angst zusammen.
Es war einer der Männer: der Kerl mit der Schrotflinte, Harts Partner. Er befand sich höchstens zweihundert Meter entfernt, auf einem Hügelkamm links von ihnen.
»Es ist meine Schuld …«, stellte Michelle wütend fest. »Ich hatte diesen beschissenen Ausbruch!« Ihr Gesicht ließ erkennen, wie sehr sie sich dafür verachtete. »Die haben mich gehört!«
Wie ein ver wöhntes Kleinkind …
»Nein«, flüsterte Brynn. »Wenn sie auf unseren Trick bei der Klippe hereingefallen wären, könnten sie gar nicht so schnell hier sein. Sie haben die Taschenlampe irgendwo festgebunden. Das war Hart. Um uns zum Narren zu halten.«
Genau wie ich es auch versucht habe. Nur dass sein Trick funktioniert hat.
Und wo steckte Hart? Sie erinnerte sich an einen kürzlich absolvierten Taktikkurs. Der Ausbilder hatte ihnen einen Vortrag über keilförmiges Kreuzfeuer gehalten. Man durfte sich nie direkt gegenüber befinden, sonst riskierte man, von den eigenen Leuten beschossen zu werden. Hart würde sich ihnen von
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