Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
obwohl ich keine Ahnung hatte, was es bedeutete. Langsam begriff ich, was mit mir passierte, wenn ich schwamm: Das Meer gab mir die Kraft, mit der ich dann wiederum das Meer bezwingen konnte. Da bestand ein direkter, kausaler Bezug. Aber konnte ich diese Kraft auch außerhalb des Wassers für mich nutzen? Was sprach schon dagegen - zumindest theoretisch? Aber wenn ich mir vorzustellen versuchte, dass ich Magielichter schaffen und meine Freunde und Nachbarn mit einer Aura in die Irre führen konnte, dann kam mir der Gedanke völlig lächerlich vor. Für mich war ich immer noch dieselbe Jane True, die noch vor einer Woche vor sich hin gelebt hatte und nichts von der Welt ahnte, an deren Rand sie sich unwissentlich aufhielt.
Trotzdem war in den letzten Tagen nun so viel so schnell passiert, und mir war klar, dass ich noch immer nicht wagte, den Tatsachen wirklich ins Auge zu sehen. Ich versuchte einfach mich durchzumogeln, ohne wirklich darüber nachzudenken, wie sehr sich mein Leben gerade veränderte. Denn darüber wollte ich nicht nachdenken - dass mein Leben
sich ändern würde, aber auf eine Weise, die ich weder vorhersehen noch kontrollieren könnte.
»Aber was, wenn nicht?«, mischte sich die zynische Stimme in meinem Kopf ein. »Dann kehrst du, wenn all das hier vorbei ist, wieder nach Rockabill zurück, zu deinem Vater und deinen Freunden und deinem alten Leben. Und du weißt verdammt gut, dass Ryu sein spannendes Leben in Boston oder hier am Hof der Alfar nicht aufgeben wird, nur um mit dir zusammen zu sein. Also vielleicht gehst du einfach wieder nach Hause zurück, und rein gar nichts hat sich geändert. Du wirst zwar wissen, dass es da draußen noch eine ganz andere Welt gibt, und du wirst Amy ein bisschen näher kommen und dich im Stall willkommener fühlen als früher - aber was, wenn das dann schon alles war, was sich für dich bessert? Keine Mitgliedskarte einer Geheimgesellschaft und kein Zugang zu einer besonderen anderen Welt voller aufregender Dinge, Gefahr und Romantik - nur verblassende Erinnerungen und ein Paar hübsche, aber unglaublich unbequeme hohe Schuhe.«
Ich musste daran denken, was ich zu Ryu über die zwei verschiedenen Janes gesagt hatte. Stellte ich mir so etwa mein künftiges Leben vor? Eine Jane für Rockabill und eine für außerhalb? Doch diese Strategie würde rein gar nichts ändern.
Ich sah, wie mein Spiegelbild auf dem Wasser die Stirn runzelte. »Wie wäre es damit: Lass dich gar nicht erst auf das Ganze hier ein«, dachte ich, während mein Körper meine geistige Abwesenheit nutzte und den Finger zum vierten Mal ins Wasser tauchte. Meine Wirbelsäule vibrierte vor Energie.
Ich seufzte. Wie gern wäre ich jetzt schwimmen gegangen - hätte das Wasser auf der Haut gespürt und all meine Sorgen vergessen. Aber ich wusste, dass ich dann wieder herumtorkeln würde wie ein betrunkener Matrose, also stand ich auf und schlang mir das Handtuch um die Hüften. Ich würde etwas anderes finden müssen, mit dem ich die nächsten paar Stunden verbringen konnte.
Ich drehte mich um und wollte zu dem kleinen, schmiedeeisernen Tor gehen, das zu dem Innenhof mit dem Lebensbaummosaik führte, als ich ein Rascheln hinter mir vernahm. »Ryu?«, fragte ich mich verwundert, obwohl ich eigentlich wusste, dass er noch nicht lange genug geruht hatte. »Wahrscheinlich ist es Elspeth, die mir meine Kleider oder einen Bademantel bringt«, dachte ich. Denn die Nymphe schien Gedankenlesen zu können. Sie hatte nicht nur heute Morgen auf mich gewartet, als ich aus dem Bad kam, sondern irgendwie war sie auch an meine Klamotten von gestern Abend gekommen und hatte mir alles frisch gewaschen zurückgebracht. »Ich frage mich, wer hier am Hof saubermacht. Wahrscheinlich irgendwelche Zauberbesen...« Ich drehte mich um, um sie zu begrüßen.
Doch es war nicht Elspeth. Anstatt meiner freundlichen Waldnymphe starrte Jimmu mich bedrohlich an. Schweigend stand er auf der anderen Seite des Pools. Er musste über den Pfad gekommen sein, der sich durch die tropische Vegetation um das Schwimmbecken schlängelte. Er war nur mit schwarzen Badeshorts bekleidet und schien gerade Sport getrieben zu haben. Er glänzte vor Schweiß, und seine unzähligen Piercings blitzten in der Sonne. Sein hemdloser Auftritt enthüllte noch ein paar mehr von
den Metalldingern, und sein Iro hing ihm fettig ins verschwitzte Gesicht.
»Und siehst du das Schwert, das er bei sich trägt?«, zischte mir meine innere Stimme alarmiert zu.
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