Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
Rhetorik nur im Nebenfach.
»Na gut, nicht ganz«, riss Trill mich aus meinen spitzfindigen Gedanken. »Ich bin eine Kelpie, und deine Mutter ist eine Selkie. Wir sind ziemlich verschieden.«
»Na großartig!«, dachte ich vollkommen entnervt. Jetzt treffe ich endlich einmal Leute, die behaupten, etwas über meine Mutter zu wissen, und dann sprechen sie bloß in Rätseln.
»Könnt ihr bitte von vorne erzählen?«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Da ergriff Nell das Wort, ganz die Stimme der Vernunft. »Kelpies«, erklärte sie, »sind Formwandler, bimorphe Wesen genau wie Selkies, die eine menschliche und eine Tierform annehmen können, oder wie Kelpies eben eine menschenartige und eine tierische Form. Trill hier wird dann zu einer Art Seepferdchen, nur größer. Deine Mutter war eine Selkie; ihre zweite Gestalt war die einer Seerobbe.«
»Verdammt!«, dachte ich. Natürlich hatte ich den Kinderfilm Das Geheimnis des Seehundbabys gesehen. Wenn das, was die winzige Frau behauptete, stimmte, dann würde das einiges erklären …
Beim Gedanken, dass das plötzliche Verschwinden meiner Mutter endlich plausibel wurde, fing mein Herz hoffnungsvoll an zu klopfen, aber schon schaltete sich mein Sinn für Realität ein und zerstreute alle meine zaghaften Hoffnungen wieder. Wie blöd war ich eigentlich, so einen Schrott zu glauben?
»Okay, das reicht jetzt«, sagte ich unwirsch. »Ich bin sicher, dass Linda oder Stuart oder wer auch immer euch gut dafür bezahlt hat, dass ihr hierherkommt und mich wie einen Vollidioten aussehen lasst, jetzt ihren Spaß hatten. Ich wette, sie haben euch ganz tolle Gründe genannt, warum man mich ruhig verletzen darf und mir vorhalten kann, was für ein Monster ich doch bin. Und dass ich es verdient habe, so behandelt zu werden. Und wisst ihr was, damit haben sie sogar Recht. Aber man kann mich nicht mehr verletzen. Ich wurde schon so sehr verletzt, schlimmer geht es nicht mehr, und nichts, was ihr mir noch antut, kann so schmerzvoll sein, wie Jason zu verlieren. Also, jetzt nehmt eurem Hund schon die falschen Reißzähne raus, wascht euch eure Schminke ab und geht zurück in euren Zirkus. Und vergesst die Riesenglühbirne nicht. Ich hätte meine Bucht gerne wieder so, wie sie vorher war.«
Ich erhob mich umständlich. Meine verkrampften Beine waren immer noch etwas wackelig, aber ich bemerkte nicht ohne Stolz die verblüfften Gesichter von »Trill« und »Nell«.
»Meine Mutter mag uns vielleicht verlassen haben, aber
sie hat keinen Trottel großgezogen«, dachte ich selbstgefällig. Doch dann hielt ich inne, als die Luft um Trill herum plötzlich zu flimmern begann. Eine schillernde Blase umgab sie. Sie hatte dieselbe Farbe wie ihre Haut, nur durchsichtiger. Sie sah aus, als bestünde sie aus reiner Energie, und sie pulsierte leicht, genau wie die Glühbirne über Nells Kopf. Unter der Oberfläche der grau schimmernden Blase passierte etwas, das aussah, als würde sich darin im Zeitraffer ein Fötus entwickeln.
Als die Blase dann ploppend platzte, befand sich dort, wo soeben noch Trill gestanden hatte, ein seltsames graues Pferdchen mit einer Mähne und einem Schweif aus Seetang. Seine kleinen schwarzen Hufe hatten dieselbe Farbe wie Trills Zehennägel vorher, und ihre schmutzigbraunen Augen sahen mich nun aus dem Ponygesicht an. Ganz schwach waren die Kiemen am Hals des Tiers zu erkennen.
Vor dem heutigen Tag war ich noch nie in Ohnmacht gefallen, aber jetzt hatte ich das deutliche Gefühl, dass ich da gleich noch einmal nachlegen würde.
Anyan schlich sich sofort näher an mich heran. Vielleicht, um mich am Weglaufen zu hindern, falls ich es doch noch schaffen sollte, mich aufzurichten, vielleicht aber auch, um mich aufzufangen, sollte ich wieder das Bewusstsein verlieren. Ich war froh, als die Hand, die ich um Gleichgewicht ringend ausstreckte, Halt an einem kräftigen, zotteligen, erstaunlich hohen Hunderücken fand. Er reichte mir bis zur Taille. Ich war zwar nur knapp einen Meter sechzig groß, aber das Vieh war trotzdem riesig.
Ich ließ mich schwerfällig zurück in den Sand fallen, und
Anyan postierte sich so hinter mich, dass ich nicht wegsacken konnte.
Ungläubig beobachtete ich, wie sich die Blase noch einmal um Trill herum ausdehnte, und mit einem weiteren Ploppen sah sie wieder menschenähnlich aus.
Falls Lindas und Stuarts Komplott keine Halluzinogene beinhaltete und man mich nicht in eine Matrix -artige virtuelle Realität versetzt hatte, dann musste
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