Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
tun.«
»Ja, aber durch Martins Tod ist die Situation eine völlig andere«, erwiderte Gretchen, so hieß die Koboldfrau offenbar, unbeeindruckt.
»Und wieso bitte?«, fragte Ryu. »Manx’ Leiche befand sich in Peter Jakes’ Kofferraum: Ergo steht sein Tod in Verbindung mit dem Mord an Peter, und damit fällt er sehr wohl unter meine Zuständigkeit.«
»Aber Sie sind nicht mehr für die Ermittlung zuständig.« Gretchen war vollkommen emotionslos, während Ryus
Hände sich zu Fäusten ballten und er sich sichtlich beherrschen musste. Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Wer auch immer diese Koboldin war, sie schien hier das Sagen zu haben, und Ryu tat sich sicher keinen Gefallen damit, wenn er sie angriff. Außerdem hatte ich das Gefühl, sie würde ihm in den Hintern treten, wenn er es wagen würde.
»Sie sind von dem Fall abgezogen worden, und ich bin berechtigt, Sie zu ersetzen.« Die Koboldin wühlte im Außenfach ihrer Aktentasche. »Orin bat mich, Sie davon zu unterrichten, dass dies auf kein Verschulden Ihrerseits zurückzuführen ist. Wenn ein Mitglied unserer Kanzlei im Dienst umkommt, schreibt unsere Satzung vor, dass wir die Verantwortung für die Ermittlungen des Verstorbenen übernehmen.« Die Eidotteraugen der Kreatur huschten für den Bruchteil einer Sekunde zu mir herüber, und ich erschauderte.
»Das ist doch totaler Mist«, zischte Ryu, als Gretchen ihm einen cremeweißen Umschlag überreichte.
»Nein, das ist das ganz normale Prozedere.« Die Koboldin machte den Reißverschluss an ihrem Aktenkoffer wieder zu und zupfte ihr Jackett zurecht. »Und das Prozedere besagt im Übrigen auch, dass es der Kanzlei selbst überlassen ist, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die unseren Mitarbeitern in die Quere gekommen sind. Alfarrecht, ganz gleich, wie rasch es zur Anwendung kommt, ist nicht gleich Koboldrecht.«
Ihre scheußlichen gelben Augen blieben völlig ausdruckslos, während sie sprach, und ich wusste, dass ich niemals erleben wollte, was Koboldrecht in der Praxis bedeutete.
In der Zwischenzeit hatte Ryu den Umschlag aufgerissen und las das Schreiben. Er war noch immer wütend, aber
nun machte sich Resignation in seinem Gesicht breit. Aufgebracht zerknüllte er den Brief und das Kuvert. »Gut«, sagte er. »Ihre Ermittlung.« Dann hatte er seine Selbstbeherrschung wiedererlangt, als erinnere er sich plötzlich an seine Manieren. »Ich hoffe, Sie finden den Mörder. Ich bedaure den Tod von Manx. Er war ein guter Anwalt.«
»Ja, das war er«, erwiderte die Koboldin reflexartig. »Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.«
Als sie in ihren Wagen einstieg, hielt sie noch einmal inne und sah mich und Ryu durchdringend an. »Keine Sorge: Martins Mörder wird für seine Tat büßen.« Die Entschlossenheit in ihrer Stimme jagte mir einen kalten Schauder über den Rücken.
Schweigend sahen wir zu, wie sie davonfuhr. Dann murmelte Ryu etwas Unverständliches. Er legte sich das zusammengeknüllte Schreiben auf die Handfläche, und ich beobachtete erstaunt, wie mit einem Zischen eine helle blaue Flamme hochschlug und das Papier in Rauch aufging.
»Kobolde«, schnaubte er verächtlich und wandte sich endlich mir zu. Er zog mich an sich und lenkte seine Wut in einen energischen Kuss um. Dann löste er sich ein wenig von mir, sah mich an und sagte, ich sei eine Wohltat für seine entzündeten Augen. »Und ich meine wirklich entzündet. Dieser knallrote Lippenstift war nicht gerade schmeichelhaft für ihren Teint«, fügte er hinzu, und ich brach in Gelächter aus.
Als wir in seinem Wagen saßen, seufzte er tief und lehnte sich gegen die Kopfstütze. »Das durchkreuzt jetzt natürlich meine Pläne«, sagte er schließlich.
Ich hatte auch schon daran gedacht. Keine Mordermittlungen bedeuteten auch, dass es keinen Grund für seine Anwesenheit
in Rockabill gab. Und das bedeutete, dass er in sein normales Leben nach Boston zurückkehren würde.
Das Schlimmste daran war, wie traurig ich bei diesem Gedanken wurde. Ich hätte mich niemals mit Ryu einlassen sollen. Und schon gar nicht so intensiv.
Ich traute meiner Stimme nicht, also saß ich einfach nur still da, mit den Händen im Schoß.
»Na ja, was geschehen ist, ist geschehen.« Er drehte sich zu mir um und legte mir die Hand aufs Knie. »Ich hatte gedacht, ich hätte mehr Zeit hier mit dir. Aber nur, weil ich jetzt früher wieder weg muss als gedacht, heißt das doch nicht, dass wir die verbleibende gemeinsame Zeit nicht trotzdem genießen
Weitere Kostenlose Bücher