Nachtwelt (German Edition)
Baumkronen streicht, lässt die Blüten leicht aneinander schlagen und erzeugt den Grundton der wunderbaren Musik. Hunderte von Vögeln, nicht größer als Mimis Daumen, fliegen durch die Kronen der Singenden Bäume, wodurch die Blüten unregelmäßiger aneinander schlagen und so die Melodie entsteht. Obwohl hier mehr als fünfzig dieser Bäume stehen ist es nicht laut. Die Musik scheint von immer gleicher Stärke, ist angenehm und unaufdringlich.
Zu der außergewöhnlichen Musik kommt ein Duft, dem Mimi nichts ihr Bekanntes zuordnen kann. Vielleicht duftet es ein wenig nach Kardamom und Honig. Vielleicht auch ein bisschen nach Moschus. Nach diesem Duft könnte sie süchtig werden.
Dieser Traum ist der Allerbeste, den sie jemals geträumt hat. Noch nie hat sie in einem Traum Düfte, beziehungsweise Gerüche wahrgenommen. Sie wünschte sie könnte ewig schlafen und träumen.
Allerdings findet sie es komisch, dass sie in einem Traum darüber nachdenkt, dass sie träumt. Sie hat das Gefühl als würden zwei Welten existieren. Die eine Wirkliche, in der Angorasocken neben ihrem Bett liegen und diese, in der sie singenden Bäumen lauscht.
Als sie zwischen den Bäumen einen Lichtschein wahrnimmt, fängt ihr Herz ganz doll an zu schlagen. Jeder der einmal verliebt war, kennt dieses Herzklopfen. Es ist unverkennbar. Es ist immer mit einem Kitzeln im Bauch und sich überschlagenden Gedanken verbunden. Bei Mimi kommen eine unnatürliche Hitze und ein blöder Gesichtsausdruck hinzu (Letzteres ist bei Verabredungen ein wenig lästig).
Sie geht dem Licht entgegen. Am Rande des Waldes liegt eine große Lichtung, auf der mehrere Feuer brennen. Auch diese Lichtung ist, wie die Ebene vor dem Wald, mit tannengrünem Moos überwachsen. Fünf Feuer, um die jeweils eine Gruppe von Leuten sitzt, brennen in der Nacht.
Begleitet von der Musik und dem wundervollen Duft tritt Mimi aus dem Schatten der Singenden Bäume und geht auf die Feuer zu. Niemand reagiert auf sie. Keiner schaut zu ihr, niemand spricht sie an. Obwohl die Situation befremdlich ist, hat sie keine Angst oder fühlt sich von diesen Menschen bedroht. Vielmehr hat sie das Gefühl angekommen zu sein, wo sie schon lange erwartet wird.
Mimi sieht Petra, ihre beste Freundin. Sie sitzt an einem der Feuer. Petra lächelt sie an und hebt die Hand. Mimi weiß nicht, ob Petra ihr zuwinkt oder ihr mit dieser Geste bekunden will, dass sie stehen bleiben soll. Gerade als sie auf ihre Freundin zugehen will, senkt diese ihren Blick und Mimi hört, wie jemand sie anspricht: „Mimi, setz’ dich zu uns. Dein Platz ist an diesem Feuer.“
Es klingt nicht unfreundlich, aber auch nicht wie eine Bitte. Sie kennt die Stimme und als sie sich in die Richtung dreht, aus der die Aufforderung gekommen ist, sieht sie Andy, ihren Nachbarn. Mimi geht hinüber zum Feuer und schweigend bedeutet Andy ihr Platz zu nehmen. Noch immer spricht niemand. Alle starren auf die Flammen der Feuer. Jeder hier ist hochkonzentriert auf etwas, dass Mimi verborgen bleibt. Da niemand redet, unterbricht auch sie die Stille nicht, sondern sitzt nur ruhig da und schaut sich um.
Um die fünf Feuer sitzen jeweils sechs Leute. Es sind gemischte Gruppen, wobei es nicht immer ein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen gibt. Petra, von der Mimi nicht mehr beachtet wird, sitzt zum Beispiel als einzige Frau mit fünf Männern an ihrem Feuer.
Wie Mimi selbst sind hier alle mit einem Schwert bewaffnet. Drei Männer tragen zusätzlich eine Streitaxt, mit langen Holzstilen. Petra und acht weitere Leute haben einen Bogen und Pfeile neben sich liegen. Petras Köcher, in dem die Pfeile stecken, ist aus dunkel gebeiztem Holz. Ein Spruchband aus Perlmut ist in das Holz eingelegt. Es sind dieselben Schriftzeichen, die auch auf Mimis Schwertklinge zu sehen sind. Mimi kneift die Augen zusammen und bemüht sich zu erkennen, was dort steht. Als die Flammen höher schlagen, kann sie es lesen:
Kämpfe und Sterbe für die Liebe.
Mimi zieht die Augenbrauen hoch und denkt: Dann sterbe ich doch lieber aus Überzeugung.
Während sie über Petras Spruchband nachdenkt, glaubt sie zu sehen, dass ein Lächeln über das Gesicht ihrer Freundin huscht.
Alle hier ähneln sich in ihrer Kleidung. Jeder trägt das grob gewebte Leinen, dass sich auf der Haut weich und warm anfühlt. Bei allen stecken die Hosen in den Stiefeln. Nur bei den Ledersachen, die über den Hemden getragen werden, gibt es kleinere
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