Nachtwesen - Die Vollstreckerin
mit einem Lächeln. „Ich habe dich dem Tod entrissen, indem ich dir mein Lebenselixier gab.“ Kyranas Hirn arbeitete viel zu langsam, als dass die auch nur ein einziges Wort verstand. Dennoch nickte sie und versuchte, sich unter leisem Stöhnen aufzurichten. Als sie schließlich saß und sich umsah, weiteten sich ihre Augen erstaunt.
„Es ist Tag geworden. Wie...lange habe ich...geschlafen?“ „Ich nehme an, wohl etwas weniger als eine Stunde“, entgegnete Merian trocken. „Es erscheint dir nur so, als wäre es Tag. Deine Sinne sind schärfer als zuvor. Du siehst um ein Vielfaches besser. Und hörst du die Eule? Sie sitzt dort hinten auf einem Baum.“ Ungläubig suchte ihr Blick den Rand des Gartens ab, fand schließlich den Uhu und blieb an jenem haften. Ein verwirrtes Kopfschütteln folgte, welches augenblicklich neuen Schwindel aufkommen ließ. „Es ist unglaublich.“ Was war bloß mit ihr geschehen? Lebenselixier...
Ihre Augen rissen sich von der Eule los und richteten sich auf Merian, als Bruchstücke einer Erinnerung zurückkamen. „Du hast mich gebissen!“ Er nickte sonderbar ernst. „In der Tat, so ist es. Ich musste dein altes Leben aus dir heraussaugen, um dir dieses neue, bessere Dasein geben zu können. Komm.“ Mit diesen Worten hielt er ihr die Hand hin, auf dass sie aufstehen möge. „Nun werden wir dafür sorgen, dass du wieder zu Kräften kommst.“
*
Als sie zurück in das Kaminzimmer traten, sahen ihnen die Anwesenden erwartungsvoll entgegen. Die Stimmung schien sich verändert zu haben – zumindest erschien es Kyrana so. Sie nahm es wahr, obwohl sie sich immer noch schwach und elend fühlte. „Kelmar...“ Eben jener trat ihnen bereits entgegen und löste ihre verkrampfte Hand aus Merians Armbeuge. Dann führte er sie zu einem Sessel, welchen eine junge Dame mit schwarzen Augen und ebensolchen Haaren fürsorglich zurecht schob. Mit einem erleichterten Ächzen ließ sie sich in die weichen Polster sinken und wagte dann einen Blick in die vielen fremden Gesichter.
„Mir ist so kalt“, flüsterte sie Kelmar zu und er nickte. „Es wird dir gleich besser gehen. Ich verspreche es.“ Als wäre dies ihr Stichwort gewesen, trat Niobe, seine Gemahlin, heran und reichte auf einem silbernen Tablett hohe, schmale Kelche herum. Ihre klaren Augen verweilten dabei für einen Moment forschend auf Kyranas Antlitz, ehe sie auch ihr einen Kelch in die Hand gab. Dann zog sie sich wieder zu den anderen Besuchern zurück. Kelmar räusperte sich und abwartende Stille legte sich über den Raum. Sachte erhob er seinen Kelch und sprach mit warmer Stimme: „Heißen wir Kyrana Yiory in unseren Reihen willkommen! Sie hat das Elend ihres menschlichen
Daseins abgestreift und gibt uns die Ehre, von heute an als eine der Unseren in diesem Anwesen zu verweilen. Möge die Nacht mit ihr sein.“Zustimmendes Gemurmel wurde laut und man trank auf ihr Wohl. Sie selbst zögerte, denn der Inhalt ihres Kelches verströmte einen penetranten Geruch nach Metall. Gerade wollte sie das Wort erheben, um sich zu erkundigen, was genau ihr da kredenzt wurde, als sich Merian von hinten zu ihrem Ohr hinab beugte. „Trink“, raunte er ihr zu. „Denk nicht, sondern leere deinen Kelch.“
Gehorsam tat sie wie ihr geheißen. Und schon die ersten samtigen Schlucke ließen sie erstaunt die Augen aufreißen. Es fühlte sich an, als würde Wärme in sie eindringen und jede Faser ihres Körpers erfüllen. Die Schwäche und das Unwohlsein schwanden und machten einer inneren Kraft Platz, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Gierig trank sie ohne abzulassen, bis der Kelch leer war. Dann erst sah sie auf – mitten hinein in Kelmars lächelndes Gesicht. „Es gefällt dir“, sprach er mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme und nickte. „Ich wusste es.“ Dann löste er den Kelch aus ihrem Griff, stellte ihn auf den Tisch und deutete auf einige Anwesende, welche in erster Reihe neben ihm standen.
„Nun, da du wieder bei Kräften bist, möchte ich dir die Obersten vorstellen. Merian kennst du bereits. Er gebietet über das Feuer und ist ein Meister des Gestaltwandels. Näheres wirst du später noch von ihm erfahren“ Unruhig rutschte Kyrana hin und her. Die neu gewonnene Lebenskraft tobte in ihr wie ein Sturm und verlangte danach, sich zu entfalten. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hinausgerannt – einfach nur gerannt, gerannt, gerannt, um zu sehen, ob sie wohl irgendwann müde werden würde.
Doch Kelmars fester
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