Nachtwesen - Die Vollstreckerin
Weg hinauf, wobei ihnen wohl Beiden die gleichen Gedanken innewohnten. „Es ist lange her. Sehr lange.“ Merians Stimme nahm einen wohlwollenden Klang an und er warf ihr einen warmen Blick zu. „Damals dachte ich nicht, dass du dich so wunderbar in unsere Reihen einfügen würdest. Obwohl Kelmar immer schon fest von dir überzeugt war.“ Kyrana musste lächeln. „Ich war entsetzlich aufgeregt und befürchtete schon, du könntest mir in deinem Schlafgemach Gewalt antun.“ Heute kam ihr jener Gedanke geradezu absurd vor.
Merian hob erstaunt eine Augenbraue und schien diese Information zunächst einmal verarbeiten zu müssen. Dann lachte er beinahe vergnügt auf und zwinkerte ihr zu. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich es vielleicht sogar drauf ankommen lassen“, scherzte er gutgelaunt. Und fuhr dann fort: “Ich für meinen Teil befand dich als schwierig und nicht geeignet. Was nicht zuletzt an der Art unseres allerersten Zusammentreffens gelegen haben mag.“
Sie erinnerte sich an ihren nächtlichen Einbruch in Kelmars Bibliothek. Es war so lange her, doch jetzt erschien es ihr, als sei es gestern gewesen. „Damals war ich noch ein Kind!“, gab sie entschuldigend zurück.
„Und recht forsch obendrein.“ Merian blieb stehen und wandte sich ihr zu, ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. „Kyrana, du sollst wissen, dass ich stolz bin, dich in mein Haus geschaffen zu haben“, sprach er, wieder ernst geworden. Seine schwarzen Augen suchten ihren Blick und hielten ihn fest. „Kelmar hat eine weise Entscheidung getroffen, dich erwählt zu haben. Du bist eine Bereicherung für uns.“
Verlegen erwiderte sie seinen Blick und seinen Händedruck. In den vielen letzten Jahren hatte sie erkannt, dass er nicht streng und kalt, sondern nur zurückhaltend war. Mittlerweile wusste sie, dass seine kurz angebundene Art nicht Ablehnung, sondern Reserviertheit bedeutete. Doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und wusste, mit ihm umzugehen. „Du warst mir von Anfang an ein guter Lehrmeister und Beschützer. Ich schätze dich sehr.“ Sie lächelte zu ihm hinauf und er nickte.
Dann wanderten sie weiter den Weg entlang, Hand in Hand und in schweigender Eintracht. Es war alles gesagt – mehr Worte waren nicht nötig.
*
Lynns Anwesen konnte ruhigen Gewissens als gruselig beschrieben werden. Sie hatte eine Vorliebe für Totenköpfe und düstere, schwere Stoffe, mit welchen die Innenräume großzügig dekoriert waren. Große, schwarz umflorte Spiegel zierten die Wände und ließen sie noch tiefer und finsterer erscheinen. Überall standen metallene Schalen, in welchen grünlich flackernde Magiefeuer brannten.
Als Einzigste der fünf Obersten ließ sie es sich nicht nehmen, in einem Sarg zu schlafen, der anstelle eines bequemen Bettes in ihrem Schlafzimmer stand. Ganz im Sinne der alten Traditionen vergangener Generationen.
Das Kaminzimmer war ein eher kleiner Raum, in welchem zuerst ein brokat-bezogener Diwan ins Auge stach. Als Kyrana und Merian eintraten, saß auf eben jenem ein verängstigt drein blickender junger Mann und starrte in einen Handspiegel, welchen ihm Lynn vor sein Gesicht hielt. „Sieh in dieses Fenster, Mensch“, intonierte sie mit gleichbleibend monotoner Stimme. „Sieh in dein zukünftiges Leben, finde dein neues Sein, zerreiße deine jämmerliche Seele und knüpfe sie neu auf einer höheren Ebene...unserer Ebene.“ Die bereits anwesenden Gäste murmelten Beifall.
Nur schwer konnte Kyrana sich von diesem eigentümlich anmutenden Anblick losreißen, um hinter Merian daran vorbei und in eine hintere Ecke des Zimmers zu huschen. Es war das erste Mal, dass sie zu einer Wandlung geladen war – ein Zeichen, dass sie nun voll und ganz als Mitglied in den Reihen der Nachtwesen anerkannt wurde. Erstaunt stellte sie fest, dass das Ritual wohl keinen festen Regeln folgte. Es schien ein jedes Mal anders zu verlaufen. Merian gab ihr einen silbernen Kelch mit Lebenselixier in die Hand und bedeutete ihr dann mit kurzem Blick, aufmerksam zuzuschauen.
Der junge Mensch stammelte und stotterte. Ganz offensichtlich war er verstört und wusste nicht, wie ihm geschah. Kyrana fragte sich, was wohl das Besondere an ihm sein mochte, das Kelmar dazu bewogen hatte, ausgerechnet ihn zu erwählen. Wie gebannt sah er in den Spiegel und murmelte abgehackte Sätze von 'Vorsehung' und 'Zukunft'. Dabei suchten seine Hände rastlos auf dem Diwan nach etwas, woran er sich festhalten könnte.
Plötzlich
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