Nachtwesen - Die Vollstreckerin
vertieft in das Bild, wusste Kyrana nicht. Doch riss sie schließlich die leise rufende Stimme Jaras in die Wirklichkeit zurück. "Kyrana? Wo bist du, Kind?" Weit am Ende des Ganges konnte man den Kopf ihrer Mutter in der geöffneten Bibliothekstür vermuten. Dass sie so weit gegangen war, hatte sie gar nicht gemerkt.
Voller Bedauern riss sie sich von dem Anblick des Gemäldes los und eilte mit raschelnder Robe den Flur entlang, zurück. "Hier. Ich bin hier, Mutter." Kaum, dass sie Jara erreicht hatte, ergriff diese ihre Hand und zerrte sie regelrecht ins Zimmer zurück. Nachdem die Tür geschlossen war, schob sie Kyrana zu einem der Sessel. "Du sollst hier nicht herumlaufen!" Ihre Stimme klang erzürnt.
"Es ist...verboten!" Energisch drückte sie ihre Tochter wieder in die Polster zurück und griff gleich danach hinter sich, um ein kleines Holzkästchen von dem, dort stehenden, Tisch zu nehmen. Sachte legte sie die Schatulle in Kyranas Hände und sprach wesentlich milder: "Sieh nur, dies ist für dich." Staunend betrachtete das Mädchen ein kleines Papyr, auf dem in steilen, schwarzen Lettern ihr Name geschrieben stand. Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihre blassen Lippen, während sie vorsichtig den Deckel des Kästchens öffnete und gespannt hineinsah.
Auf samtigem Untergrund lag eine feingliedrige, silberne Kette mit einem runden Anhänger. In dessen Mitte fand sich ein seltsames Zeichen. Kyrana verstand sich nicht auf das Deuten von Symbolen. Daher sah sie fragend ihre Mutter an. Jara zu ckte die Schultern und ergriff mit spitzen Fingern die Kette, um sie ihrer Tochter um den schlanken Hals zu legen. "Du musst sie tragen, Kind.
Es wäre unhöflich, es nicht zu tun." Später würde sie bei den Magiern in der Stadt nachfragen, ob jemand um die Bedeutung des Symboles wusste. Zart fuhren Kyranas Finger über das Schmuckstück. Es fühlte sich kühl auf ihrer Haut an und war schwerer, als es zuerst schien. Den Anhänger drapierte sie vorsichtig über ihrer neuen Robe und sah dann stolz zu Jara auf. "Du wirst ihm meinen Dank sagen, nicht wahr, Mutter?" Weshalb Kelmar ihr wohl solch ein Geschenk machte, obwohl er ihr nie begegnet war, darüber grübelte sie gar nicht erst nach. Vielmehr freute sie sich einfach und war schon begierig, dem Vater das kostbare Stück zu zeigen.
*
Die aufregenden Ereignisse des Tages ließen Kyrana nicht zur Ruhe kommen, als sie am Abend im Bett lag. Fein säuberlich zusammengefaltet, fand sich die neue Robe auf einem Stuhl in der Ecke ihres Zimmers, doch die Kette hatte sie noch immer um den Hals. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, starrte sie im fahlen Schein einer einzelnen Kerze auf das Holz ihrer Zimmerdecke. Was sie dort sah, war das kühle Antlitz Kelmars, welcher zu ihr hinunter zu schauen schien. Die Nachtwesen schliefen am Tage und begannen ihr geheimnisvolles Leben erst in der Dunkelheit der Nacht.
Dem Mädchen lief ein seltsam wohliger Schauer über den Rücken, während sie sich ausmalte, dass der Oberste in die Bibliothek seines Anwesens eilte, um zu sehen, ob sie sein Geschenk bekommen hatte. Vielleicht würde er ihren Duft noch in dem großen Sessel riechen können. Begleitet von dem raunenden Gemurmel ihrer Eltern in der Wohnküche, schlief sie schließlich ein.
Kapitel 3
In den nächsten Tagen, Wochen und Monate n verlief Kyranas Leben wieder ohne nennenswerte Höhen und Tiefen, einsam und eintönig. Der Schneider zu Nocrya hatte weitere Gewänder angefertigt, welche ihr bis zu den Schuhspitzen reichten und mit kindlicher Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, wie ihre Mutter ihre alten Kleider dem Waisenhaus der Stadt spendete.
Die Kette von Kelmar legte sie niemals ab, so als würde sie eine geheimnisvolle Bindung unterbrechen, wenn sie es täte. Jara indes, war bei einem weisen Magier in den Hinterhöfen Nocryas vorstellig geworden und hatte ihn über jenes Zeichen befragt, welches den Anhänger zierte.
Es war das Symbol für Leben . Diese Erkenntnis ließ die beunruhigte Mutter ziemlich ratlos zurück, konnte sie sich doch nicht vorstellen, welche Bewandtnis es mit dem Geschenk haben sollte. An den Nachmittagen trieb sich Kyrana nun öfter in den Wäldern herum.
Natürlich war es dumm, zu denken, sie könnte zu dieser Tageszeit eines der Nachtwesen antreffen, doch hätte sie auch nie zugegeben, dass dies ihre Hoffnungen waren. Den Weg bis zu Kelmars Anwesen wagte sie sich nicht hinauf, schon aus Angst, sie könnte ihrer Mutter auf deren Heimweg
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