Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
unheimlich, denn sie spielte ohne Figuren und ohne Licht. »Ich kann Portugiesisch und könnte dich unterstützen!« sagte sie. Er versuchte, ihr auf portugiesisch zu antworten, und fühlte sich wie in einer Prüfung, als die Worte nicht kamen. Minha Senhora , begann er stets von neuem, Minha Senhora , und dann wußte er nicht weiter.
Er rief Doxiades an. Nein, er habe ihn nicht geweckt, sagte der Grieche, mit dem Schlafen sei es wieder einmal ganz schlecht. Und nicht nur mit dem Schlafen.
Einen solchen Satz hatte Gregorius von ihm noch nie gehört, und er erschrak. Was denn sei, fragte er.
»Ach, nichts«, sagte der Grieche, »ich bin einfach müde, ich mache in der Praxis Fehler, ich möchte aufhören.«
Aufhören? Er und aufhören ? Und was dann?
»Nach Lissabon fahren, zum Beispiel«, lachte er.
Gregorius erzählte von Pedro, seiner fliehenden Stirn und dem epileptischen Blick. Doxiades erinnerte sich an den Jurassier.
»Danach haben Sie eine Weile miserabel gespielt«, sagte er. »Für Ihre Verhältnisse.«
Es wurde bereits hell, als Gregorius wieder einschlief. Als er zwei Stunden später aufwachte, wölbte sich über Lissabon ein wolkenloser Himmel, und die Leute gingen ohne Mantel. Er nahm das Schiff und fuhr hinüber nach Cacilhas zu João Eça.
»Das dachte ich mir, daß Sie heute kommen«, sagte er, und aus seinem schmalen Mund klangen die kargen Worte wie ein enthusiastisches Feuerwerk.
Sie tranken Tee und spielten Schach. Eças Hand zitterte, wenn er zog, und es gab ein Klacken, wenn er die Figur aufsetzte. Bei jedem seiner Züge erschrak Gregorius von neuem über die Brandnarben auf dem Handrücken.
»Nicht der Schmerz und die Verletzung sind das Schlimme«, sagte Eça. »Das Schlimme, das ist die Demütigung. Die Demütigung, wenn du spürst, daß du in die Hosen machst. Als ich rauskam, brannte ich vor Rachebedürfnis. Glühte. Wartete im Verborgenen, bis die Folterknechte nach dem Dienst rauskamen. Im biederen Mantel und mit Aktentasche wie Leute, die ins Büro gehen. Ich folgte ihnen nach Hause. Gleiches mit Gleichem vergelten. Was mich gerettet hat, war der Ekel davor, sie anzufassen. Und das hätte es schon sein müssen, ein Schuß wäre viel zu gnädig gewesen. Mariana dachte, ich hätte einen Prozeß der moralischen Reifung durchlaufen. Keine Spur. Ich habe es stets abgelehnt, reifer zu werden, wie sie es nennen. Mag die Reifen nicht. Halte diese sogenannte Reife für Opportunismus oder pure Ermüdung.«
Gregorius verlor. Bereits nach wenigen Zügen spürte er, daß er gegen diesen Mann nicht gewinnen wollte . Die Kunst war, ihn das nicht spüren zu lassen, und er entschied sich für halsbrecherische Manöver, die ein Spieler wie Eça durchschauen würde, aber nur ein Spieler wie er.
»Das nächste Mal lassen Sie mich nicht gewinnen«, sagte Eça, als das Signal fürs Essen kam. »Sonst werde ich böse.«
Sie aßen das verkochte Mittagessen des Heims, das nach nichts schmeckte. Ja, so sei es immer, sagte Eça, und als er Gregorius’ Gesicht sah, lachte er das erstemal richtig. Gregorius erfuhr etwas über Joãos Bruder, Marianas Vater, der reich geheiratet hatte, und über die zerbrochene Ehe der Ärztin.
Er frage dieses Mal ja gar nicht nach Amadeu, sagte Eça.
»Ich bin Ihretwegen hier, nicht seinetwegen«, sagte Gregorius.
»Auch wenn Sie nicht seinetwegen gekommen sind«, sagte Eça gegen Abend, »ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Er hat es mir gegeben, nachdem ich ihn eines Tages gefragt hatte, was er denn so schreibe. Ich habe es so oft gelesen, ich kann es fast auswendig.« Und er übersetzte die beiden Blätter für Gregorius.
O B Á LSAMO DO DESILUS Ã O. DER BALSAM DER ENTTÄUSCHUNG. Enttäuschung gilt als Übel. Ein unbedachtes Vorurteil. Wodurch, wenn nicht durch Enttäuschung, sollten wir entdecken, was wir erwartet und erhofft haben? Und worin, wenn nicht in dieser Entdeckung, sollte Selbsterkenntnis liegen? Wie also sollte einer ohne Enttäuschung Klarheit über sich selbst gewinnen können?
Wir sollten Enttäuschungen nicht seufzend erleiden als etwas, ohne das unser Leben besser wäre. Wir sollten sie aufsuchen, ihnen nachspüren, sie sammeln. Warum bin ich enttäuscht, daß die angebeteten Schauspieler meiner Jugend jetzt alle Zeichen des Alters und Verfalls tragen? Was lehrt mich die Enttäuschung darüber, wie wenig Erfolg wert ist? Manch einer braucht ein Leben lang, um sich die Enttäuschung über seine Eltern einzugestehen. Was haben wir
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