Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
das Quietschen der Bremsen hören und von dem plötzlich einsetzenden Schatten der Bahnhofshalle verschluckt werden? Warum sonst sollte es ein magischer Moment, ein Augenblick von geräuschloser Dramatik sein, wenn der Zug mit einem letzten Rucken zum vollständigen Stillstand kommt? Es ist, weil wir von den ersten Schritten an, die wir auf dem fremden und auch nicht mehr fremden Perron tun, ein Leben wiederaufnehmen, das wir unterbrochen und verlassen hatten, als wir damals das erste Rucken des anfahrenden Zuges spürten. Was könnte aufregender sein, als ein unterbrochenes Leben mit all seinen Versprechungen wiederaufzunehmen?
Es ist ein Fehler, ein unsinniger Gewaltakt, wenn wir uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren in der Überzeugung, damit das Wesentliche zu erfassen. Worauf es ankäme, wäre, sich sicher und gelassen, mit dem angemessenen Humor und der angemessenen Melancholie, in der zeitlich und räumlich ausgebreiteten inneren Landschaft zu bewegen, die wir sind. Warum bedauern wir Leute, die nicht reisen können? Weil sie sich, indem sie sich äußerlich nicht ausbreiten können, auch innerlich nicht auszudehnen vermögen, sie können sich nicht vervielfältigen, und so ist ihnen die Möglichkeit genommen, weitläufige Ausflüge in sich selbst zu unternehmen und zu entdecken, wer und was anderes sie auch hätten werden können.
Als es hell wurde, ging Gregorius in den Bahnhof hinunter und nahm den ersten Zug nach Moutier im Jura. Es fuhren tatsächlich Leute nach Moutier. Tatsächlich. Moutier war nicht nur die Stadt, in der er gegen den Mann mit dem viereckigen Gesicht, der fliehenden Stirn und dem stoppligen Haarschnitt verloren hatte, weil er die Langsamkeit nicht aushielt, mit der er seine Züge machte. Moutier war eine wirkliche Stadt mit einem Rathaus, mit Supermärkten und Tearooms. Gregorius suchte zwei Stunden vergeblich nach dem Ort des damaligen Turniers. Man konnte nicht nach etwas suchen, von dem man nichts mehr wußte. Die Bedienung im Tearoom wunderte sich über seine wirren, unzusammenhängenden Fragen und tuschelte nachher mit der Kollegin.
Am frühen Nachmittag war er wieder in Bern und nahm den Lift hinauf zur Universität. Es waren Semesterferien. Er setzte sich in einen leeren Hörsaal und dachte an den jungen Prado in den Hörsälen von Coimbra. Nach den Worten von Pater Bartolomeu konnte er gnadenlos sein, wenn er Eitelkeit vor sich hatte. Gnadenlos. Das Messer ging ihm in der Tasche auf. Und er hatte eigene Kreide bei sich, wenn jemand ihn an die Tafel zitierte, um ihn vorzuführen. Es war viele Jahre her, daß sich Gregorius eines Tages unter den verwunderten Blicken der Studenten in diesem Hörsaal in eine Vorlesung über Euripides gesetzt hatte. Er war erstaunt gewesen über das abgehobene Kauderwelsch, das da geredet wurde. »Warum lesen Sie nicht wieder einmal den Text?« hätte Gregorius dem jungen Dozenten gerne zugerufen. »Lesen! Einfach nur lesen !« Als der Mann immer häufiger französische Begriffe einflocht, die erfunden schienen, um zu seinem rosafarbenen Hemd zu passen, war er gegangen. Es war schade, dachte er jetzt, daß er es diesem Schnösel damals nicht wirklich zugerufen hatte.
Draußen blieb er nach wenigen Schritten stehen und hielt den Atem an. Drüben bei der Buchhandlung Haupt trat Natalie Rubin aus der Tür. In der Tüte, dachte er, war die persische Grammatik, und Natalie ging jetzt in Richtung Post, um sie ihm nach Lissabon zu schicken.
Das allein hätte vielleicht noch nicht genügt, dachte Gregorius später. Vielleicht wäre er trotzdem geblieben und hätte so lange am Bubenbergplatz gestanden, bis er ihn wieder hätte berühren können. Doch dann ging in der frühen Dämmerung des trüben Tages in allen Apotheken das Licht an. Cortar a luz , hörte er O’Kelly sagen, und als die Worte nicht weichen wollten, ging Gregorius zu seiner Bank und überwies eine größere Summe auf sein Girokonto. »Na, endlich brauchen Sie auch mal was von Ihrem Geld!« sagte die Frau, die seine Ersparnisse verwaltete.
Frau Loosli, seiner Nachbarin, sagte er, er müsse für längere Zeit verreisen. Ob sie seine Post weiterhin sammeln und ihm nachschicken könnte, wenn er ihr telefonisch sagte, wohin? Die Frau hätte gerne mehr gewußt, traute sich aber nicht zu fragen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte Gregorius und gab ihr die Hand.
Er rief das Hotel in Lissabon an und bat darum, ihm auf unbestimmte Zeit dasselbe Zimmer wie bisher zu reservieren. Es sei
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