Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
gut, daß er anrufe, sagten sie, da sei nämlich ein Paket für ihn gekommen, und die alte Frau von neulich habe wieder ein Briefchen überbracht. Auch telefonisch habe man nach ihm gefragt, die Nummern hätten sie aufgeschrieben. Und im übrigen hätten sie im Schrank ein Schachspiel gefunden. Ob das ihm gehöre?
Abends ging Gregorius zum Essen ins Bellevue, es war das Sicherste, um niemandem zu begegnen. Der Kellner war zuvorkommend wie zu einem alten Bekannten. Nachher betrat Gregorius die Kirchenfeldbrücke, die wieder frei war. Er ging bis zu der Stelle, wo die Portugiesin den Brief gelesen hatte. Als er nach unten blickte, wurde ihm schwindlig. Zu Hause las er bis spät in die Nacht hinein in dem Buch über die portugiesische Pestepidemie. Er wendete die Seiten in dem Gefühl, einer zu sein, der Portugiesisch konnte.
Am nächsten Morgen nahm er den Zug nach Zürich. Die Maschine nach Lissabon ging kurz vor elf. Als sie am frühen Nachmittag landete, schien die Sonne aus einem wolkenlosen Himmel. Das Taxi fuhr mit offenem Fenster. Der Hotelpage, der ihm den Koffer und das Paket mit Natalie Rubins Büchern aufs Zimmer trug, erkannte ihn und redete wie ein Wasserfall. Gregorius verstand kein Wort.
25
»Quer tomar alguma coisa?« Wollen Sie etwas mit mir trinken?, stand in dem Briefchen, das Clotilde am Dienstag gebracht hatte. Und dieses Mal war die Unterschrift einfacher und vertraulicher: Adriana .
Gregorius betrachtete die drei Zettel mit den Telefonnotizen. Montag abend hatte Natalie Rubin angerufen und war verwirrt gewesen, als sie ihr sagten, er sei abgereist. Dann hatte sie die persische Grammatik, mit der er sie gestern gesehen hatte, vielleicht gar nicht zur Post gebracht?
Er rief sie an. Ein Mißverständnis, sagte er, er habe nur eine kleine Reise gemacht und wohne jetzt wieder im Hotel. Sie erzählte von ihrer erfolglosen Suche nach Literatur über die Resistência.
»Wenn ich in Lissabon wäre – ich wette, ich würde etwas finden«, sagte sie.
Gregorius sagte nichts.
Er habe ihr ja viel zuviel Geld geschickt, meinte sie in die Stille hinein. Und dann: Sein Exemplar der persischen Grammatik bringe sie heute noch zur Post.
Gregorius schwieg.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich es auch lerne?« fragte sie, und auf einmal lag eine Ängstlichkeit in ihrer Stimme, die gar nicht zu dem höfischen Fräulein passen wollte, noch viel weniger als das Lachen, in das sie ihn neulich hineingezogen hatte.
Nein, nein, sagte er und bemühte sich um einen heiteren Ton, warum denn auch.
»Até logo« , sagte sie.
»Até logo« , sagte auch er.
Dienstag nacht Doxiades und jetzt das Mädchen: Warum war er plötzlich wie ein Analphabet, wenn es um Nähe und Abstand ging? Oder war er es immer gewesen, ohne es zu merken? Und warum hatte er nie einen Freund gehabt, wie Jorge O’Kelly es für Prado gewesen war? Einen Freund, mit dem er über Dinge wie Loyalität und Liebe hätte sprechen können, und über den Tod?
Mariana Eça hatte angerufen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. José António da Silveira dagegen ließ ihm ausrichten, er würde ihn gerne zu sich zum Abendessen einladen, sollte er noch einmal zurück nach Lissabon kommen.
Gregorius machte das Bücherpaket auf. Die portugiesische Grammatik war einem Lateinbuch so ähnlich, daß er lachen mußte, und er las darin, bis es dunkel wurde. Dann schlug er die Geschichte Portugals auf und stellte fest, daß sich Prados Lebensspanne ziemlich genau mit der Dauer des Estado Novo gedeckt hatte. Er las über den portugiesischen Faschismus und die Geheimpolizei P.I.D.E., der Rui Luís Mendes angehört hatte, der Schlächter von Lissabon. TARRAFAL , erfuhr er, hatte das schlimmste Lager für politische Häftlinge geheißen. Es hatte auf der Kapverden-Insel Santiago gelegen, und sein Name war den Menschen Symbol für die gnadenlose politische Verfolgung gewesen. Doch am meisten interessierte Gregorius, was er über die Mocidade Portuguesa las, eine paramilitärische Organisation nach italienischem und deutschem Muster, die vom faschistischen Vorbild den römischen Gruß übernahm. Ihr mußte die gesamte Jugend von der Grundschule bis zur Universität beitreten. Das fing 1936 an, zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs, da war Amadeu de Prado sechzehn. Hatte auch er das zwangsverordnete grüne Hemd getragen? Den Arm gehoben, wie man es in Deutschland tat? Gregorius betrachtete das Portrait: undenkbar. Doch wie hatte er sich entziehen können? Hatte
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