Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
der Vater seinen Einfluß geltend gemacht? Der Richter, der sich trotz Tarrafal auch weiterhin um zehn vor sechs morgens von seinem Chauffeur abholen ließ, um im Justizpalast der erste zu sein?
Spät in der Nacht stand Gregorius auf der Praça do Rossio. Würde er den Platz jemals so berühren können, wie er früher den Bubenbergplatz berührt hatte?
Bevor er zum Hotel zurückkehrte, ging er in die Rua dos Sapateiros. In O’Kellys Apotheke brannte Licht, und er sah auf der Theke das vorsintflutliche Telefon, das er Montag nacht von Kägis Büro aus hatte klingeln lassen.
26
Am Freitag morgen rief Gregorius Julio Simões, den Antiquar, an und ließ sich noch einmal die Adresse der empfohlenen Sprachschule geben, die er vor dem Abflug nach Zürich weggeworfen hatte. Die Leitung der Schule war erstaunt über seine Ungeduld, als er sagte, er könne nicht bis Montag warten und wolle, wenn möglich, gleich beginnen.
Die Frau, die kurz darauf den Raum für Einzelunterricht betrat, war ganz in Grün gekleidet, und auch der Lidschatten paßte dazu. Sie setzte sich in dem gut geheizten Raum hinters Pult und zog fröstelnd die Stola um die Schultern. Sie heiße Cecília, sagte sie mit heller, melodiöser Stimme, die nicht zu dem mürrischen, verschlafenen Gesicht paßte. Er möge ihr sagen, wer er sei und warum er die Sprache lernen wolle. Auf portugiesisch natürlich, fügte sie mit einem Ausdruck hinzu, der abgrundtiefe Langeweile auszudrücken schien.
Erst als Gregorius drei Stunden später, schwindlig vor Erschöpfung, auf die Straße trat, wurde ihm klar, was in jenem Moment in ihm vorgegangen war: Er hatte die schnoddrige Herausforderung der mürrischen Frau angenommen, als wäre sie eine überraschende Eröffnung auf dem Schachbrett. Warum kämpfst du im Leben nie, wo du es doch im Schach so gut kannst! , hatte Florence mehr als einmal gesagt. Weil ich Kämpfen im Leben lächerlich finde , hatte er geantwortet, man hat doch mit sich selbst schon genug zu kämpfen. Und nun hatte er sich tatsächlich auf den Kampf mit der grünen Frau eingelassen. Hatte sie in schier unglaublicher Hellsichtigkeit gespürt, daß sie ihn in diesem Moment seines Lebens so nehmen mußte? Manchmal war es ihm so vorgekommen, besonders wenn hinter der mürrischen Fassade ein triumphierendes Lächeln erschienen war, mit dem sie sich über seine Fortschritte freute. »Não, não« , hatte sie protestiert, als er das Grammatikbuch hervorholte, »tem que aprender falando« , Sie müssen beim Sprechen lernen.
Im Hotel legte sich Gregorius aufs Bett. Cecília hatte ihm das Grammatikbuch verboten. Ihm, Mundus. Sie hatte es ihm sogar weggenommen. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, und auch seine Lippen bewegten sich, und er hatte keine Ahnung, wo die Wörter herkamen, mais doce, mais suave , sagte sie unablässig, und wenn sie das hauchdünne, grüne Halstüchlein über die Lippen zog, so daß es sich blähte, wenn sie sprach, dann wartete er auf den Moment, wo er die Lippen wieder sehen konnte.
Als er aufwachte, begann es zu dämmern, und als er bei Adriana klingelte, war es Nacht. Clotilde führte ihn in den Salon.
»Wo waren Sie denn?« fragte Adriana, kaum hatte er den Raum betreten.
»Ich bringe Ihnen die Aufzeichnung Ihres Bruders wieder«, sagte Gregorius und reichte ihr den Umschlag mit den Blättern.
Ihre Züge verhärteten sich, die Hände blieben im Schoß.
»Was haben Sie denn erwartet?« fragte Gregorius und kam sich vor wie bei einem kühnen Zug auf dem Brett, dessen Folgen er nicht übersah. »Daß ein Mann wie er sich nicht überlegen würde, was richtig war? Nach einer solchen Erschütterung? Nach einem Vorwurf, der alles in Frage stellte, wofür er stand? Daß er einfach zur Tagesordnung übergehen würde? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
Er erschrak über die Heftigkeit seiner letzten Worte. Er war darauf gefaßt, daß sie ihn hinauswerfen würde.
Adrianas Züge glätteten sich, und ein beinahe glückliches Erstaunen glitt über ihr Gesicht. Sie streckte ihm die Hände entgegen, und Gregorius gab ihr den Umschlag. Eine Weile fuhr sie mit dem Handrücken darüber, wie sie es beim ersten Besuch mit den Möbeln in Amadeus Zimmer getan hatte.
»Er geht seither zu dem Mann, dem er vor langer Zeit begegnet ist, in England, auf der Reise mit Fátima. Er hat mir von ihm erzählt, als er… vorzeitig zurückkam, meinetwegen. João heißt er, João irgendwas. Er geht jetzt oft zu ihm. Kommt nachts nicht nach
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