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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Hause, so daß ich die Patienten wegschicken muß. Liegt oben auf dem Boden und studiert Schienenverläufe. Ein Eisenbahnnarr ist er immer gewesen, aber nicht so. Es tut ihm nicht gut, man kann es sehen, die Wangen sind hohl, er hat abgenommen, er ist unrasiert, es wird ihn in den Tod treiben, ich spüre es.«
    Zuletzt war ihre Stimme wieder quengelig gewesen, eine hörbare Weigerung, das Vergangene als etwas anzuerkennen, das unwiderruflich vorbei war. Doch vorher, als er sie angefahren hatte, war etwas auf ihrem Gesicht erschienen, das man als die Bereitschaft deuten konnte und sogar als den sehnlichen Wunsch, die Tyrannei der Erinnerung abzuschütteln und aus dem Kerker der Vergangenheit befreit zu werden. Und so riskierte er es.
    »Er studiert schon lange nicht mehr Schienenverläufe, Adriana. Er geht schon lange nicht mehr zu João. Er praktiziert schon lange nicht mehr. Amadeu ist tot, Adriana. Und Sie wissen das. Er ist an dem Aneurysma gestorben. Vor einunddreißig Jahren, einem halben Menschenleben. Frühmorgens. In der Rua Augusta. Man hat Sie angerufen.« Gregorius zeigte auf die Standuhr. »Um sechs Uhr dreiundzwanzig. So war es doch, nicht wahr?«
    Schwindel erfaßte Gregorius, und er hielt sich an der Sessellehne fest. Er würde nicht die Kraft haben, einem weiteren Ausbruch der alten Frau, wie er ihn vor einer Woche in den Praxisräumen erlebt hatte, standzuhalten. Sobald der Schwindel vorbei war, würde er gehen und nie wiederkommen. Warum, um Gottes willen, hatte er gedacht, es sei seine Aufgabe, diese Frau, mit der er eigentlich gar nichts zu tun hatte, aus der erstarrten Vergangenheit zu befreien und in ein gegenwärtiges, fließendes Leben zurückzuholen? Warum hatte er sich als denjenigen gesehen, dem es bestimmt war, die Siegel ihres Geistes aufzubrechen? Wie war er bloß auf diese aberwitzige Idee verfallen?
    Es blieb still im Raum. Der Schwindel ließ nach, und Gregorius öffnete die Augen. Adriana saß zusammengesunken auf dem Sofa, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte, der magere Körper zuckte, die Hände mit den dunklen Venen zitterten. Gregorius setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Noch einmal brachen die Tränen mit Macht aus ihr heraus, und nun klammerte sie sich an ihn. Langsam dann wurde das Schluchzen schwächer, und die Ruhe der Erschöpfung trat ein.
    Als sie sich aufrichtete und nach dem Taschentuch griff, erhob sich Gregorius und ging zur Uhr. Langsam, wie in Zeitlupe, öffnete er das Glas vor dem Zifferblatt und stellte die Zeiger auf die gegenwärtige Zeit. Er wagte nicht, sich umzudrehen, eine falsche Bewegung, ein falscher Blick konnte alles zum Einsturz bringen. Mit einem leisen Schnappen schloß sich das Glas vor dem Zifferblatt. Gregorius öffnete den Pendelkasten und setzte das Pendel in Bewegung. Das Ticken war lauter, als er erwartet hatte. In den ersten Sekunden war es, als gebe es im Salon nur noch dieses Ticken. Eine neue Zeitrechnung hatte begonnen.
    Adrianas Blick war auf die Uhr gerichtet, und der Blick glich dem eines ungläubigen Kindes. Die Hand mit dem Taschentuch war mitten in der Bewegung stehengeblieben und wirkte wie aus der Zeit herausgeschnitten. Und dann geschah etwas, das Gregorius vorkam wie ein bewegungsloses Erdbeben: Adrianas Blick flackerte, verglühte, erlosch, kam zurück und gewann auf einmal die Sicherheit und Helligkeit eines Blicks, der ganz der Gegenwart zugewandt ist. Ihre Blicke begegneten sich, und Gregorius legte in den seinen alle Sicherheit, die er besaß, damit er den ihren würde halten können, wenn er wieder zu flackern begänne.
    Clotilde erschien und blieb mit dem Tee in der Tür stehen, den Blick auf die tickende Uhr gerichtet. Graças a Deus! , sagte sie leise. Sie sah Adriana an, und als sie den Tee auf den Tisch stellte, glitzerte es in ihren Augen.
    Was für Musik Amadeu gehört habe, fragte Gregorius nach einer Weile. Zuerst schien es, als hätte Adriana die Frage nicht verstanden. Ihre Aufmerksamkeit mußte offenbar eine weite Strecke zurücklegen, bevor sie in der Gegenwart ankommen konnte. Die Uhr tickte und schien mit jedem Schlag die Botschaft zu verkünden, daß alles anders geworden war. Auf einmal dann stand Adriana wortlos auf und legte eine Platte von Hector Berlioz auf. Les Nuits d’Été, La Belle Voyageuse, La Captive, La Mort d’Ophélie.
    »Er konnte es stundenlang hören«, sagte sie. »Was sage ich: tagelang.« Sie setzte sich wieder aufs Sofa.
    Gregorius war

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