Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
einem Schlag alles klar. Sie hielt einen dampfenden Becher Kaffee in der einen Hand und wärmte die andere daran. Der Blick aus den klaren, braunen Augen war prüfend ohne Drohung. Sie war keine strahlende Frau. Sie war keine Frau, nach der man sich umdrehen würde. Eine solche Frau war sie auch in jungen Jahren nicht gewesen. Aber Gregorius war noch nie einer Frau begegnet, die eine so unauffällige und doch so vollkommene Sicherheit und Selbständigkeit ausgestrahlt hatte. Sie mußte über achtzig sein, doch man hätte sich nicht gewundert, wenn sie noch mit sicherer Hand ihrem Beruf nachgegangen wäre.
»Kommt drauf an, was Sie wollen«, sagte sie, als Gregorius fragte, ob er hereinkommen dürfe. Er wollte nicht schon wieder unter einer Tür stehen und das Portrait von Prado vorzeigen wie einen Ausweis. Der ruhige, offene Blick gab ihm den Mut zu einer Eröffnung ohne Umweg.
»Ich beschäftige mich mit dem Leben und den Aufzeichnungen von Amadeu de Prado«, sagte er auf Französisch. »Ich habe erfahren, daß Sie ihn kannten. Ihn besser kannten als jeder andere.«
Ihr Blick hatte erwarten lassen, daß nichts sie würde aus der Fassung bringen können. Jetzt geschah es doch. Nicht an der Oberfläche. Sie lehnte in ihrem dunkelblauen Wollkleid so sicher und gelassen am Türrahmen wie vorher, und die freie Hand rieb weiter an dem warmen Becher, nur ein bißchen langsamer. Doch der Wimpernschlag war rascher geworden, und auf der Stirn waren Falten einer Konzentration erschienen, wie man sie braucht, wenn man sich plötzlich etwas Unerwartetem gegenübersieht, das Konsequenzen haben könnte. Sie sagte nichts. Für ein paar Sekunden schloß sie die Augen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
»Ich weiß nicht, ob ich dahin zurückwill«, sagte sie. »Aber es hat ja keinen Sinn, daß Sie hier draußen im Regen stehen.«
Die französischen Worte kamen ohne Stocken, und ihr Akzent hatte die schläfrige Eleganz einer Portugiesin, die mühelos Französisch spricht, ohne die eigene Sprache auch nur für einen Moment zu verlassen.
Wer er sei, wollte sie wissen, nachdem sie ihm einen Becher Kaffee hingestellt hatte, nicht mit den manierierten Bewegungen einer aufmerksamen Gastgeberin, sondern mit den nüchternen, schnörkellosen Bewegungen von jemandem, der das praktisch Notwendige erledigt.
Gregorius erzählte von der spanischen Buchhandlung in Bern und von den Sätzen, die ihm der Buchhändler übersetzt hatte. Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache , zitierte er . Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form, seine Färbung und seine Melodie geben.
Maria João schloß die Augen. Die rissigen Lippen, auf denen es Reste von Fieberblasen gab, begannen unmerklich zu zittern. Sie sank ein bißchen tiefer in den Sessel. Ihre Hände umspannten ein Knie und ließen es wieder los. Jetzt wußte sie nicht wohin mit den Händen. Die Lider mit den dunklen Äderchen zuckten. Langsam wurde der Atem ruhiger. Sie öffnete die Augen.
»Sie haben das gehört und sind aus der Schule weggelaufen«, sagte sie.
»Ich bin aus der Schule weggelaufen und habe das gehört«, sagte Gregorius.
Sie lächelte. Sie sah mich an und schenkte mir ein Lächeln, das aus der weiten Steppe wach gelebten Lebens kam , hatte Richter Prado geschrieben.
»Gut. Aber es paßte. Es paßte so gut, daß Sie ihn kennenlernen wollten. Wie sind Sie auf mich gekommen?«
Als Gregorius mit seiner Geschichte fertig war, sah sie ihn an.
»Ich wußte nichts von dem Buch. Ich möchte es sehen.«
Sie schlug es auf, sah das Bild, und es war, als würde eine verdoppelte Schwerkraft sie in den Sessel drücken. Hinter den geäderten, beinahe durchsichtigen Lidern rasten die Augäpfel. Sie nahm Anlauf, öffnete die Augen und heftete einen festen Blick auf das Bild. Langsam fuhr sie mit der runzligen Hand darüber, einmal und dann noch einmal. Jetzt stützte sie die Hände auf die Knie, erhob sich und ging wortlos aus dem Zimmer.
Gregorius nahm das Buch und betrachtete das Bild. Er dachte an den Moment, in dem er im Café beim Bubenbergplatz gesessen und es das erstemal gesehen hatte. Er dachte an Prados Stimme aus Adrianas altem Tonbandgerät.
»Jetzt bin ich also doch dorthin zurückgekehrt«, sagte Maria João, als sie sich wieder in den Sessel setzte. » Wenn es um die Seele geht, gibt es weniges, was wir in der Hand haben. Pflegte er zu sagen.«
Ihr Gesicht war
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