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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Genialität liegt in der Suggestion, der überwältigend plausiblen Suggestion, daß es an der Seele etwas zu entdecken gibt wie an einem wirklichen Stück Welt. Die Wahrheit, Jorge, ist eine ganz andere: Wir haben die Seele erfunden, um einen Gesprächsgegenstand zu haben, etwas, über das wir reden können, wenn wir einander begegnen. Stell dir vor, wir könnten nicht über die Seele reden: Was sollten wir miteinander anfangen? Es wäre die Hölle!
    »Er konnte sich darüber in einen wahren Rausch hineinreden, er glühte dann förmlich, und wenn er mir ansah, daß ich seinen Rausch genoß, sagte er: Weißt du, das Denken ist das Zweitschönste. Das Schönste ist die Poesie. Wenn es das poetische Denken gäbe und die denkende Poesie – das wäre das Paradies. Als er später mit seinen Aufzeichnungen begann: Ich glaube, sie waren der Versuch, sich den Weg in dieses Paradies zu bahnen.«
    Ein feuchter Schimmer lag in O’Kellys Augen. Er sah nicht, daß seine Dame in Gefahr war. Gregorius machte einen belanglosen Zug. Sie waren die letzten im Raum.
    »Einmal dann wurde aus dem denkenden Spiel bitterer Ernst. Es geht Sie nichts an, worum es ging, das geht niemanden etwas an.«
    Er biß sich auf die Lippen.
    »Auch João drüben in Cacilhas nicht.«
    Er zog an der Zigarette und hustete.
    »›Du machst dir etwas vor‹, sagte er zu mir, ›du wolltest es aus einem anderen Grund als dem, den du vor dir inszenierst‹.
    Das waren seine Worte, seine verdammten, verletzenden Worte: den du vor dir inszenierst . Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn Ihnen jemand sagt, daß Sie Ihre Gründe nur inszenieren ? Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn ein Freund , DER Freund, es sagt?
    ›Woher willst du das wissen‹, schrie ich ihn an, ›ich denke, es gibt da nicht wahr und falsch, oder stehst du nicht mehr dazu?‹«
    Auf O’Kellys unrasiertem Gesicht waren rote Flecke.
    »Wissen Sie, ich hatte einfach daran geglaubt, daß wir über alles sprechen könnten, das uns durch den Kopf ging. Alles . Romantisch. Verdammt romantisch, ich weiß. Aber so war es zwischen uns, mehr als vierzig Jahre lang. Seit dem Tag, als er in seinem teuren Gehrock und ohne Schultasche in der Klasse erschien.
    Er war doch derjenige, der vor keinem Gedanken Angst hatte. Er war es doch, der im Angesicht von Priestern vom sterbenden Wort Gottes hatte sprechen wollen. Und als ich dann einen kühnen und, wie ich zugebe, schrecklichen Gedanken ausprobieren wollte – da merkte ich, daß ich ihn und unsere Freundschaft überschätzt hatte. Er sah mich an, als sei ich ein Monster. Er wußte sonst stets zu unterscheiden zwischen einem bloß ausprobierten Gedanken und einem, der uns tatsächlich in Gang setzt. Er war es, der mir diesen Unterschied, diesen befreienden Unterschied, beigebracht hat. Und plötzlich wußte er davon nichts mehr. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen. In dieser einen, einzigen Sekunde dachte ich, daß das Schrecklichste geschehen war: daß unsere lebenslange Zuneigung in Haß umgeschlagen war. Das war der Moment, der entsetzliche Moment, in dem wir uns verloren.«
    Gregorius wollte, daß O’Kelly die Partie gewänne. Er wollte, daß er ihn mit zwingenden Zügen Matt setze. Aber Jorge fand nicht mehr ins Spiel zurück, und Gregorius arrangierte ein Remis.
    »Sie ist einfach nicht möglich, die grenzenlose Offenheit«, sagte Jorge, als sie sich auf der Straße die Hand gaben. »Sie geht über unsere Kräfte. Einsamkeit durch Verschweigenmüssen, auch das gibt es.«
    Er atmete Rauch aus.
    »Es ist alles lange her, über dreißig Jahre. Als ob es gestern gewesen wäre. Ich bin froh, daß ich die Apotheke behalten habe. Ich kann darin in unserer Freundschaft wohnen. Und zeitweilig gelingt es mir zu denken, daß wir uns nie verloren haben. Daß er einfach nur gestorben ist.«

38
     
    Seit einer guten Stunde schlich Gregorius um das Haus von Maria João herum und fragte sich, warum er solches Herzklopfen hatte. Die große, berührungslose Liebe seines Lebens hatte Mélodie sie genannt. Es würde mich nicht wundern, wenn er ihr nicht einmal einen Kuß gegeben hätte. Aber niemand, keine Frau, reichte an sie heran. Wenn jemand all seine Geheimnisse kannte, war es Maria João. In gewissem Sinn wußte nur sie, sie allein, wer er war. Und Jorge hatte gesagt, sie sei die einzige Frau gewesen, der Amadeu wirklich etwas zutraute. Maria, mein Gott, ja, Maria , hatte er gesagt .
    Als sie dann die Tür öffnete, war Gregorius mit

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