Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
sagte er.
Ich dachte, er hätte es vergessen. Er hatte es nicht vergessen. Wir weinten. Es war das einzige Mal, daß wir zusammen weinten.«
Maria João ging hinaus. Als sie zurückkam, hatte sie einen Schal um den Hals und einen dicken Mantel über dem Arm.
»Ich möchte mit Ihnen ins Liceu fahren«, sagte sie. »Was davon übrig ist.«
Gregorius stellte sich vor, wie sie die Bilder von Isfahan betrachten und Fragen stellen würde. Er war erstaunt, daß er sich nicht genierte. Nicht vor Maria João.
39
Sie, die Achtzigjährige, fuhr das Auto mit der Ruhe und Präzision eines Taxifahrers. Gregorius betrachtete ihre Hände am Steuer und an der Schaltung. Es waren keine eleganten Hände, und sie nahm sich auch nicht die Zeit, sie besonders zu pflegen. Hände, die Kranke versorgt hatten, Nachttöpfe geleert, Verbände angelegt. Hände, die wußten, was sie taten. Warum hatte Prado sie nicht zu seiner Assistentin gemacht?
Sie hielten und gingen zu Fuß durch den Park. Sie wollte zuerst in das Gebäude der Mädchenschule.
»Ich bin seit dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Seit seinem Tod. Damals war ich fast täglich hier. Ich dachte, der gemeinsame Ort, der Ort der ersten Begegnung, könnte mich lehren, von ihm Abschied zu nehmen. Ich wußte nicht, wie ich das machen sollte: von ihm Abschied nehmen. Wie nimmt man von jemandem Abschied, der das eigene Leben geprägt hat wie niemand sonst?
Er hat mir etwas geschenkt, das ich vorher nicht kannte und auch nach ihm nie mehr erfahren habe: sein unglaubliches Einfühlungsvermögen. Er war viel mit sich selbst beschäftigt, und er konnte selbstbezogen sein bis zur Grausamkeit. Zugleich aber besaß er, wenn es um andere ging, eine Phantasie, die so schnell und so präzise war, daß einem schwindlig werden konnte. Es kam vor, daß er mir sagte, wie ich mich fühlte, noch bevor ich begonnen hatte, nach den Worten zu suchen. Andere verstehen wollen war eine Leidenschaft von ihm, eine Passion. Aber er wäre nicht er gewesen, wenn er die Möglichkeit eines solchen Verstehens nicht auch angezweifelt hätte, so radikal angezweifelt, daß einem nun in der umgekehrten Richtung schwindlig werden konnte.
Es schaffte eine unglaubliche, eine atemberaubende Nähe, wenn er so zu mir war. Zu Hause war es nicht besonders ruppig zugegangen, aber wir waren sehr nüchtern miteinander, zweckmäßig sozusagen. Und da kam einer, der fähig war, in mich hineinzusehen. Es war wie eine Offenbarung. Und es ließ eine Hoffnung entstehen.«
Sie standen in Maria Joãos Klassenzimmer. Hier gab es keine Bänke mehr, nur die Tafel war noch da. Blinde Fenster, in denen hie und da ein Stück Glas fehlte. Maria João öffnete ein Fenster, aus dem Knirschen sprachen Jahrzehnte. Sie zeigte hinüber zum Liceu.
»Dort. Dort drüben, im dritten Stock waren die Lichtpunkte des Opernglases.« Sie schluckte. »Daß einer, ein Junge aus adligem Hause, mich mit dem Opernglas suchte: Das… das war schon etwas. Und, wie gesagt, es ließ eine Hoffnung entstehen. Sie hatte noch eine kindliche Form, diese Hoffnung, und natürlich war nicht klar, wovon sie handelte. Trotzdem war es, in vager Form, die Hoffnung auf ein geteiltes Leben.«
Sie gingen die Treppe hinunter, auf der wie im Liceu ein seifiger Film aus feuchtem Staub und verfaultem Moos lag. Maria João schwieg, bis sie den Park durchquert hatten.
»Irgendwie wurde es das ja dann auch. Ein geteiltes Leben, meine ich. Geteilt in naher Ferne; in ferner Nähe.«
Sie blickte die Fassade des Liceu hinauf.
»Dort, an diesem Fenster saß er, und weil er schon alles konnte und sich langweilte, schrieb er mir kleine Botschaften auf Zettel, die er mir in der Pause zusteckte. Es waren keine… keine billets doux . Es stand nicht da, was ich hoffte, bei jedem Zettel von neuem. Es waren seine Gedanken zu irgend etwas. Zu Teresa d’Ávila und vielem anderem. Er machte mich zu einer Bewohnerin seiner Gedankenwelt. ›Außer mir wohnst nur du da‹, sagte er.
Und trotzdem galt, was ich nur ganz langsam und erst viel später begriffen habe: Er wollte nicht, daß ich in sein Leben verwickelt würde. In einem Sinn, der sehr schwer zu erklären ist, wollte er, daß ich draußen blieb. Ich habe darauf gewartet, daß er mich fragte, ob ich in der blauen Praxis arbeiten wolle. Im Traum habe ich dort gearbeitet, viele Male, und es war wunderbar, wir verstanden uns ohne Worte. Doch er hat nicht gefragt, nicht einmal andeutungsweise.
Er liebte Züge, sie waren ihm ein
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