Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Sinnbild des Lebens. Ich wäre gern in seinem Abteil mitgefahren. Doch dort wollte er mich nicht. Er wollte mich auf dem Bahnsteig, er wollte jederzeit das Fenster öffnen und mich um Rat fragen können. Und er wollte, daß der Bahnsteig mitführe, wenn der Zug sich in Bewegung setzte. Ich sollte, einem Engel gleich, auf dem mitfahrenden Perron stehen, auf der Engelsplattform, die mit exakt der gleichen Geschwindigkeit dahinzugleiten hatte.«
Sie betraten das Liceu. Maria João sah sich um.
»Eigentlich durften Mädchen hier nicht hinein. Aber er schleuste mich nach dem Unterricht ein und zeigte mir alles. Pater Bartolomeu erwischte uns. Er kochte. Aber es war Amadeu, und so sagte er nichts.«
Sie standen vor dem Zimmer von Senhor Cortês. Jetzt hatte Gregorius doch Angst. Sie traten ein. Maria João brach in Lachen aus. Es war das Lachen eines lebenslustigen Schulmädchens.
»Sie?«
»Ja.«
Sie trat an die Wand vor die Bilder von Isfahan und sah ihn fragend an.
»Isfahan, Persien. Ich wollte als Schüler dahin. Ins Morgenland.«
»Und jetzt, wo Sie weggelaufen sind, holen Sie das nach. Hier.«
Er nickte. Er hatte nicht gewußt, daß es Menschen gab, die so schnell begriffen. Man konnte das Zugfenster öffnen und den Engel fragen.
Maria João tat etwas Überraschendes: Sie trat neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter.
»Amadeu hätte das verstanden. Und nicht nur verstanden. Er hätte Sie dafür geliebt. A imaginação, o nosso último santuário , pflegte er zu sagen. Die Einbildungskraft und die Intimität, das waren neben der Sprache die beiden einzigen Heiligtümer, die er gelten ließ. Und sie haben viel miteinander zu tun, sehr viel , sagte er.«
Gregorius zögerte. Doch dann öffnete er die Schreibtischschublade doch und zeigte Maria João die hebräische Bibel.
»Ich wette, das ist Ihr Pullover!«
Sie setzte sich in einen Sessel und legte sich eine von Silveiras Decken über die Beine.
»Lesen Sie mir daraus vor, bitte. Hat er auch getan. Ich verstand natürlich nichts, aber es war wundervoll.«
Gregorius las die Schöpfungsgeschichte. Er, Mundus, las in einem verfallenen portugiesischen Gymnasium einer achtzigjährigen Frau, die er gestern noch nicht gekannt hatte und die kein Wort Hebräisch konnte, die Schöpfungsgeschichte vor. Es war das Verrückteste, das er jemals getan hatte. Er genoß es, wie er noch nie etwas genossen hatte. Es war, als streifte er im Inneren alle Fesseln ab, um dieses eine Mal ungehemmt um sich zu schlagen wie einer, der um sein baldiges Ende weiß.
»Und jetzt gehen wir in die Aula«, sagte Maria João. »Die war damals abgeschlossen.«
Sie setzten sich in die erste Reihe vor das erhöhte Pult.
»Dort also hat er seine Rede gehalten. Seine berüchtigte Rede. Ich liebte sie. Es war so viel von ihm drin. Er war sie. Aber es gab etwas daran, über das ich erschrak. Nicht in der Fassung, die er vortrug, er hat es herausgenommen. Sie werden sich an den Schluß erinnern, wo er sagt, daß er beides brauche, die Heiligkeit von Worten und die Feindschaft gegen alles Grausame. Dann kommt: Und niemand möge mich zwingen zu wählen . Das war der letzte Satz, den er vortrug. Ursprünglich aber kam noch ein Satz: Seria uma corrida atrás do vento , es wäre Haschen nach Wind.
›Was für ein wunderbares Bild!‹ rief ich aus.
Da nahm er die Bibel und las mir aus Salomo vor: Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind. Ich erschrak.
›Das kannst du doch nicht machen!‹ sagte ich. ›Das erkennen die Patres doch alle sofort und werden dich für größenwahnsinnig halten!‹
Was ich nicht sagte: daß ich in jenem Moment Angst um ihn hatte, um seine seelische Gesundheit.
›Aber warum‹, sagte er erstaunt, ›es ist doch einfach Poesie.‹
›Aber du kannst doch keine biblische Poesie sprechen! Biblische Poesie! In deinem Namen!‹
›Poesie übertrumpft alles‹, sagte er, ›sie setzt alle Regeln außer Kraft.‹
Aber er war unsicher geworden und strich den Satz. Er spürte, daß ich besorgt war, er spürte immer alles. Wir sprachen nie mehr darüber.«
Gregorius erzählte ihr von Prados Diskussion mit O’Kelly über Gottes sterbendes Wort.
›Das wußte ich nicht‹, sagte sie und schwieg eine Weile. Sie faltete die Hände, löste sie, faltete sie wieder.
»Jorge. Jorge O’Kelly. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob er ein Glück für Amadeu war oder ein Unglück. Ein großes Unglück, das
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