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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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erstickte fast an seinem schlechten Gewissen. Er war ein mutiger Mann, ein Mann von ganz ungewöhnlichem Mut. Hier aber war er feige, und er hat diese Feigheit nie verwunden.«
    Er ist feige, wenn es um Mamã geht , hatte Adriana gesagt. Die einzige Feigheit, die es an ihm gibt. Er, der sonst keiner unangenehmen Sache ausweicht, keiner .
    »Ich habe es verstanden«, sagte Maria João, »ja, ich glaube, ich kann sagen: Ich habe es verstanden. Ich habe ja erlebt, wie tief Vater und Mutter in ihm drin waren. Was sie in ihm angerichtet haben. Und trotzdem: Ich war verstört. Auch wegen Fátima. Aber mehr noch verstörte mich das Radikale, ja Brutale seiner Entscheidung. Mitte zwanzig, und er legt sich in dieser Sache fest. Für immer. Ich habe etwa ein Jahr gebraucht, bis ich damit zurechtgekommen bin. Bis ich mir sagen konnte: Er wäre nicht er, wenn er so etwas nicht könnte.«
    Maria João nahm Prados Buch zur Hand, setzte eine Brille auf und begann zu blättern. Doch sie war mit den Gedanken immer noch in der Vergangenheit und nahm die Brille wieder ab.
    »Wir haben nie länger über Fátima gesprochen, darüber, was sie für ihn war. Sie und ich, wir sind uns einmal im Café begegnet, sie kam herein und fühlte sich verpflichtet, sich zu mir zu setzen. Noch bevor der Kellner kam, wußten wir beide, daß es ein Fehler war. Es war zum Glück nur ein Espresso.
    Ich weiß nicht, ob ich das Ganze verstand oder ob ich es nicht verstand. Ich bin nicht einmal sicher, ob er es verstand. Und hier ist meine Feigheit: Ich habe nicht gelesen, was er über Fátima aufgeschrieben hat. ›Das darfst du erst nach meinem Tod lesen‹, sagte er, als er mir den versiegelten Umschlag gab. ›Aber ich möchte nicht, daß es Adriana in die Hände fällt.‹ Mehr als einmal habe ich den Umschlag in der Hand gehabt. Irgendwann entschied ich für immer: Ich will es nicht wissen. Und so ist er immer noch hier in der Schachtel.«
    Maria João tat den Text über die Todesmahnung zurück in die Schachtel und schob sie zur Seite.
    »Eines weiß ich: Als die Sache mit Estefânia geschah, war ich kein bißchen überrascht. Das gibt es ja: Daß man nicht weiß, was jemandem fehlt, bis er es bekommt, und dann ist mit einem Schlag ganz klar, daß es das war.
    Er veränderte sich. Zum erstenmal in vierzig Jahren schien er sich vor mir zu genieren und etwas an sich vor mir verstecken zu wollen. Ich erfuhr nur, daß es da jemanden gab, jemanden aus dem Widerstand, der auch etwas mit Jorge zu tun hatte. Und daß Amadeu es nicht zulassen wollte, nicht zulassen konnte. Aber ich kannte ihn: Er dachte unablässig an sie. Aus seinem Schweigen war klar: Ich sollte sie nicht sehen. Als ob ich durch ihren Anblick etwas über ihn erfahren könnte, was ich nicht wissen durfte. Was niemand wissen durfte. Nicht einmal er selbst, sozusagen. Da ging ich hin und wartete vor dem Haus, wo sich der Widerstand traf. Es kam nur eine einzige Frau heraus, und es war mir sofort klar: Das ist sie.«
    Maria Joãos Blick ging durch den Raum und heftete sich an einen fernen Punkt.
    »Ich möchte sie Ihnen nicht beschreiben. Sagen will ich nur dieses: Ich konnte mir sofort vorstellen, was mit ihm geschehen war. Daß die Welt für ihn plötzlich ganz anders ausgesehen hatte. Daß die bisherige Ordnung umgestürzt worden war. Daß mit einemmal ganz andere Dinge zählten. So eine Frau war sie. Dabei war sie erst Mitte zwanzig. Sie war nicht nur der Ball, der rote irische Ball im College. Sie war viel mehr als alle roten irischen Bälle zusammen: Er muß gespürt haben, daß sie für ihn die Chance war, ganz zu werden. Als Mann, meine ich.
    Nur so ist zu erklären, daß er alles aufs Spiel setzte: die Achtung der anderen, die Freundschaft mit Jorge, die ihm heilig gewesen war, sogar das Leben. Und daß er aus Spanien zurückkam, als sei er… vernichtet worden. Vernichtet, ja, das ist das richtige Wort. Er war langsam geworden, hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Nichts mehr vom früheren Quecksilber in seinen Adern, nichts mehr von seiner Kühnheit. Seine Lebensglut war erloschen. Er sprach davon, daß er das Leben ganz neu lernen müsse.
    ›Ich bin draußen im Liceu gewesen‹, sagte er eines Tages. ›Damals, da lag noch alles vor mir. Es war noch so vieles möglich. Es war alles offen.‹«
    Maria João hatte einen Kloß im Hals, sie räusperte sich, und als sie weitersprach, klang es heiser.
    »Er sagte noch etwas. ›Warum bloß sind wir nie zusammen nach Ávila gefahren‹,

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